Kliniken – Mindeststandard für die Gewaltprävention in der Notaufnahme Schutzmaßnahmen, Standards und Hintergrundinformation
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Notaufnahmen sind häufig von verbaler, körperlicher oder sexualisierter Gewalt betroffen. Die Ursachen liegen in den besonderen Rahmenbedingungen der Notaufnahme.
Die zu behandelnden Personen befinden sich häufig in einer emotionalen Ausnahmesituation – durch Schmerzen, Ängste, Unruhe und Anspannungen. Und auch die begleitenden Personen befinden sich in einem Zustand der Ungewissheit. Auch kann die Wahrnehmung der Realität durch Alkohol, Drogen oder durch demenzielle Erkrankungen stark verändert sein.
Diese emotionalisierten Menschen treffen in der Notaufnahme nicht selten auf Gegebenheiten, die das Entstehen aggressiver und gewalttätiger Handlungen begünstigen können, wie lange Wartezeiten, Personalmangel und damit einhergehend fehlende Ansprechpersonen.
In diesem Setting arbeiten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Notaufnahme nachts regelmäßig außer Ruf- und Hörweite von Kollegen und Kolleginnen und somit temporär alleine.
Da sich Übergriffe auf das Personal in Notaufnahmen häufen, sehen sich Klinikleitungen zunehmend auch mit der Frage konfrontiert, welche Maßnahmen sie ergreifen können und müssen, um ihre Beschäftigten angemessen zu schützen.
Zehn Maßnahmen stellen aus Sicht der BGW den Mindeststandard beim Thema „Gewaltprävention in der Notaufnahme“ dar.
Zehn Punkte gegen Gewalt
Primäres Ziel
Unbefugte können sich nicht unbemerkt Zugang zum Haus und zur Notaufnahme verschaffen, insbesondere nicht nachts.
Anforderungen an die Zutrittskontrolle
- Der Zugang zur Anmeldung, zum Wartebereich und zu den Behandlungsräumen kann von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen eingesehen werden, zum Beispiel:
- Die Eingänge sind über – bruchsichere – Scheiben einsehbar.
- Es können beispielsweise auch Kamerasysteme in Eingangsbereichen und gegebenenfalls in Fluren zur Notaufnahme installiert werden.
- Der Zutritt ist von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen über elektrische Türsysteme steuerbar, ohne dass sie selbst sichere Bereiche verlassen müssen.
- Da es üblicherweise auch einen Zugang über die Liegendanfahrt und mindestens einen Zugang über das Haus gibt, sollten diese nachts ebenfalls ausreichend einsehbar und der Zutritt steuerbar sein.
Primäres Ziel
Empfangsbereich und Anmeldetresen bieten Schutz, sodass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht leicht gegriffen und festgehalten werden können.
Anforderungen an Empfangsbereich
- voll umschlossener, gut einsehbarer Empfangsbereich oder Anmeldetresen
- leicht zu sichernde, bruchsichere Scheibe mit Durchreiche
- verschließbare Tür mit Außenknauf
Bei geringer Gefährdung und, wenn ein Fluchtweg nach hinten vorhanden ist, kann ein hoher Tresen mit Plexiglasscheiben, Gesamthöhe etwa 1,80 Meter, ausreichend Sicherheit bieten.
Primäres Ziel
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen können sich bei der Eskalation eines Konflikts schnell und sicher zurückziehen bis Hilfe kommt.
Anforderungen an den Rückzugsraum
- Der Rückzugsraum ist zentral gelegen, schnell und leicht erreichbar.
- Die Zugangstür ist offen oder für die Beschäftigten schnell und leicht zu öffnen, zum Beispiel mit Fingerabdruck oder Transponder.
- Nach dem Schließen kann die Tür von außen nicht von Unbefugten geöffnet werden.
- Hilfe rufen ist leicht möglich oder es gibt eine Notruffunktion.
Primäres Ziel
Alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind mit verbalen und physischen Deeskalationstechniken vertraut. Falls in der Einrichtung erforderlich beherrschen sie Fixierungstechniken.
Anforderungen an Schulung und Training
- Entsprechende Schulungen und Trainings sind für das gesamte pflegerische und ärztliche Personal, auch für Auszubildende, Schüler und Schülerinnen, Assistenzärzte und -ärztinnen verbindlich.
- Die Personen aus diesem Kreis absolvieren diese Schulung vor Aufnahme ihrer Tätigkeit in der Notaufnahme.
- Trainings werden zur Auffrischung möglichst jährlich, spätestens alle 3 Jahre, wiederholt.
Primäres Ziel
Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wissen sich bei Übergriffen und bedrohlichen Situationen planvoll zu verhalten.
Anforderungen an die Notfallplanung und Unterweisung
- Die Möglichkeit von Übergriffen oder des Auftretens kritischer Situationen und denkbare Eskalationsszenarien sind dem gefährdeten Personenkreis bekannt.
- Fluchtwegverläufe in sichere oder gesicherte Bereiche sind bekannt und gekennzeichnet.
- Alarmierungssysteme sind vorhanden und ihre Funktionsweise bekannt, wie zum Beispiel Personen-Notsignal-Anlagen, Lage der Notrufknöpfe.
- Das Verfahren zur Alarmierung in Richtung Pforte oder der Polizei ist geklärt.
- Die nach einem Übergriff zu informierenden Personen sind benannt und bekannt.
- Eine Ansprechperson für ein Auffanggespräch und kollegiale Erstbetreuung ist schnell erreichbar:
- Wundversorgung und Begleitung zu weiterer Behandlung sind sichergestellt.
- Es wird geklärt, ob die betroffene Person die Schicht beenden sollte oder fortsetzen kann, und, ob sie je nach Verfassung – auch im Hinblick auf ihre Verkehrstüchtigkeit – nach Hause begleitet oder das Abholen organisieren werden muss.
- Es ist sichergestellt, dass die Betroffenen bei den weiteren Schritten unterstützt werden.
- Das Angebot eines Nachsorgekonzepts und die Ansprechpersonen sind bekannt.
Die BGW bietet eine Förderung der Qualifizierung von kollegialen Erstbetreuerinnen und -betreuern an.
Primäres Ziel
Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen können sich einer gefährlichen Situation schnell entziehen und das persönliche Verletzungsrisiko wird ausreichend reduziert.
Anforderungen an die Unterweisung der Beschäftigten
- Kleidung, Haare und Schmuck können nicht leicht gegriffen und die Personen daran festgehalten oder gezogen werden, zum Beispiel:
- Keine losen Halstücher tragen.
- Kleidung mit eher eng anliegenden Kragen und Ärmeln tragen.
- Lange Haare möglichst nicht offen und eher einen Dutt als einen Zopf tragen.
- Fest sitzende Schuhe mit rutschfester Sohle tragen.
Primäres Ziel
Die Polizei kann auf einen Notruf hin schnell Hilfe leisten.
Anforderungen an Absprachen mit der Polizei
- Die zuständige Einsatzstelle ist über einrichtungstypische Eskalationsszenarien und kritische Auslöser eines Notrufes informiert.
- Die zuständigen Polizeieinsatzkräfte kennen die Räumlichkeiten und haben leichten Zugang zu relevanten Bereichen der Notaufnahme, zum Beispiel mit eigenen Transpondern.
Primäres Ziel
Im Notfall kann Hilfe rechzeitig zur Stelle sein.
Anforderungen an das Notrufsystem
- In der Notaufnahme sind mehrere Alarmierungssysteme vorhanden.
- Diese sind für Außenstehende nicht leicht erkennbar.
- Sie sind vom jeweiligen Arbeitsplatz aus leicht erreichbar, zum Beispiel Arbeitsplatz Anmeldung: Tastatur oder Telefon mit integrierter Notruftaste oder ein Notrufknopf unter dem Tisch.
- Sie sind schnell und leicht auszulösen, zum Beispiel mit einem Telefon mit integrierter Notruftaste, sodass keine längere Notrufnummer gewählt werden muss.
- Alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die regelmäßig außer Ruf- und Hörweite arbeiten, sind mit Personen-Notsignal-Anlagen ausgerüstet.
- Der Zugang zum Alarmierungssystem kann nicht leicht versperrt beziehungsweise das Gerät kann nicht leicht entwendet werden, zum Beispiel Personen-Notsignal-Anlagen, die bei schnellen Bewegungen oder definiertem Neigungswinkel automatisch auslösen.
- Der Ort des Notrufs wird automatisch übermittelt.
Primäres Ziel
Die betroffenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen fühlen sich nach jeder Art von Übergriff ernst genommen und gut unterstützt.
Anforderungen an ein Nachsorgekonzept
- Ein qualifiziertes Auffanggespräch kann bei Bedarf innerhalb von 48 Stunden sichergestellt werden.
- Information der Führung und Falldokumentation sind geregelt.
- Betroffenen wird weitergehende therapeutische Unterstützung angeboten und sie werden über die Leistungen der BGW informiert.
- Der Vorfall wird an die BGW gemeldet.
Primäres Ziel
Die Risikofaktoren werden identifiziert und der Handlungsbedarf ermittelt.
Anforderungen an die Analyse
- Im Unternehmen werden alle verbalen, körperlichen und sexualisierten Übergriffe und Gewaltereignisse systematisch erfasst.
- Die Statistik wird mindestens einmal jährlich im Arbeitsschutzausschuss ausgewertet.
Unsere Fachleute sind sich einig, dass diese Maßnahmen – insbesondere bei temporärer Alleinarbeit – notwendig, angemessen und geeignet sind, um das Übergriffsgeschehen in Notaufnahmen und mögliche gesundheitliche Folgen für die Beschäftigten zu reduzieren. Bei vergleichbar gefährdenden Arbeitsbedingungen auf anderen Stationen oder in anderen Einrichtungen können diese Mindeststandards herangezogen werden. Dies ist beispielsweise für Psychiatrien denkbar.
Achtung: Diese zehn Maßnahmen ersetzen nicht die vorgeschriebene betriebsspezifische Gefährdungsbeurteilung. Alle Unternehmer und Unternehmerinnen sind verpflichtet, die für die Beschäftigten bestehenden Gefährdungen zu bewerten und Maßnahmen abzuleiten. Bei der Maßnahmenfindung besteht ein gewisser Handlungsspielraum. Maßnahmen, die ein gleiches oder höheres Sicherheitsniveau herstellen gelten als ebenso geeignet. Sie sind im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung zu begründen. Je höher die tatsächliche Gefahr von Übergriffen ist und je häufiger Tätigkeiten außer Ruf- und Hörweite von Kollegen und Kolleginnen durchgeführt werden, desto konsequenter muss sich an diesem Maßnahmenkatalog orientiert werden.