Der Weg von der Theorie bis zur Praxis ist oft weit. Wie wird das Wissen – Ergonomisches Arbeiten hält Mitarbeitende gesund – zum Alltag – Wir leben Ergonomie? Ein Beispiel aus der Behindertenhilfe zeigt, wie Unternehmen mit dem "BGW Ergo-Coach" Strukturen aufbauen und Ansprechpersonen für Ergonomie etablieren können.
Selbst ausprobieren ist aufschlussreich – und macht Spaß! Daniel Löser und Kathrin Gohlke tragen ihr Know-how zum ergonomischen Arbeiten jetzt ins Team weiter.
Wie wird aus einem Uäh ein Hui? Daniel Löser und Kathrin Gohlke schmunzeln. Das ist ein Scherz aus einer Schulung. Dort stellte sich nämlich heraus, dass etwas Anstrengendes mit simplen Mitteln plötzlich ganz einfach sein kann, erklärt Gohlke. Die Lösung war der Einsatz eines Gleittuchs.
Gohlke und Löser organisieren im Bereich "Wohnen und Teilhabe – Besondere Wohnformen" der Johannesstift Diakonie Proclusio gGmbH in Berlin – die früher die Bezeichnung "Behindertenhilfe" im Namen trug – das Handlungsfeld Ergonomie. Dazu haben sie eine Ausbildung als "Ergo-Coach" bei der BGW gemacht. Sie sind nicht allein: Neun weitere Mitarbeitende sind auch als Ergonomie-Coaches im Einsatz.
Beschäftigte schulen
Eine wichtige Aufgabe der Ergo-Coaches und Ergo-Coachinnen ist die Schulung ihrer Kolleginnen und Kollegen im ergonomischen Arbeiten. Und dort gibt es so manchen "Aha-Effekt". Zum Beispiel, wenn der Transfer von Menschen mithilfe eines Gleittuchs auf einmal ohne großen Aufwand und mit wenig körperlicher Belastung für die Beschäftigten möglich wird.
Die "Proclusio" mit insgesamt rund 700 Mitarbeitenden widmet sich in Berlin und Brandenburg dem Geschäftsbereich Wohnen und Teilhabe und in Berlin zusätzlich dem Bereich Bildung, Arbeit und Beschäftigung. Die Ergo-Coaches nehmen jetzt zunächst die Besonderen Wohnformen in den Blick. Hier bieten etwa 390 Beschäftigte in fünf Wohneinrichtungen Assistenzleistungen für rund 270 leistungsberechtigte Menschen mit Behinderungen an.
Die Ergo-Coaches sollen auch mal um die Ecke denken.
Kathrin Werner ist Fachbereichsverantwortliche und für zwei der Einrichtungen zuständig. Als wir uns 2023 zur Teilnahme am ‚BGW Ergo-Coach‘ entschieden haben, war das auch ein Neustart. Wir hatten schon früher 'Ergonomie-Instruktoren' im Rahmen des Gesundheitsmanagements – aber die Aktivitäten waren mit der Zeit und mit personellen Wechseln etwas eingeschlafen.
Engagement für Ergonomie im Unternehmen verankern
Die Tätigkeit der neuen Ergo-Coaches wird fest in den Unternehmensstrukturen verankert. Das ist eine Grundvoraussetzung für die Teilnahme am BGW-Angebot. Deshalb werden nicht nur Beschäftigte zu Ergo-Coaches und Ergo-Coachinnen ausgebildet. Das BGW-Angebot beinhaltet auch die Schulung der Führungskräfte und begleitende Beratung. Workshops helfen, die Identifikation mit dem Thema und die Motivation aufrechtzuerhalten, sagt Daniel Löser.
Ergonomie als Selbstverständlichkeit – und Pflicht
Einige Meilensteine hat die Johannesstift Diakonie Proclusio gGmbH schon geschafft: Zum neuen Onboardingprozess gehört verbindlich eine Basis-Schulung zur Ergonomie für alle neuen Mitarbeitenden. Auch "Bestands-Beschäftigte" können an den quartalsweise durchgeführten Schulungen teilnehmen.
Zusätzlich gehen die Ergo-Coaches und -Coachinnen in die Teams und haben sich das Ziel gesetzt, überall ein Bewusstsein für ergonomisches Arbeiten zu schaffen. Es soll klar sein, dass das Sinn macht. Es soll zur Selbstverständlichkeit werden. Es ist aber auch eine Pflicht, sagt Daniel Löser. Umso wichtiger sei es, dass Menschen das Thema vorantreiben, die sich damit identifizieren können.
Ihm ist wichtig, dass das Engagement für rückengesundes Arbeiten effizient ist. Wir sind in der komfortablen Situation, dass wir den Rückhalt von den Führungskräften haben und in unser internes Forum integrierter Gesundheits- und Arbeitsschutz, IGA, eingebunden sind. Den elf Ergo-Coaches stehen jeweils rund 100 Stunden pro Jahr zur Verfügung. Nun geht es darum, abzuliefern, diese Zeit gut zu nutzen und Sichtbarkeit herzustellen.
Fachbereichsverantwortliche Kathrin Werner sieht es ähnlich. Ein zentraler Erfolgsfaktor für das Vorhaben sei freiwilliges Engagement. Ergo-Coaches werden nicht benannt oder verpflichtet. Die Ausbildung wird bei uns mit Interesse und Freude angenommen – wir haben eine große Resonanz und schon wieder einige Anmeldungen.
Wie Ergo-Coaches und -Coachinnen im Alltag wirken können, weiß Werner aus ihrer eigenen Zeit als Mitarbeiterin im Gruppendienst. Ich wurde damals vom Ergonomie-Instruktor angesprochen. Er hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass ich beim Transfer etwas falsch mache, und mir gezeigt, wie es besser geht, einfacher und rückenschonender. Das ist hängengeblieben.
Hilfsmittel sinnvoll einsetzen
Aus den Schulungen ergeben sich oft weitere Bedarfe der Beschäftigten rund um ergonomisches Arbeiten oder bestimmte Hilfsmittel. Dann sind beispielsweise Einzelcoachings möglich. Aber das Aufgabengebiet der Ergo-Coaches und -Coachinnen reicht noch weiter: Sie haben unter anderem den Auftrag, die vorhandenen Hilfsmittel zu katalogisieren und somit einen besseren Zugriff für die Mitarbeitenden zu ermöglichen. Manche Einrichtungen haben Sachen im Keller, für die anderswo Bedarf besteht, berichtet Daniel Löser. Es finde sich aber auch eine Lösung, wenn im individuellen Fall etwas ganz anderes benötigt wird, betont Kathrin Werner. Die Ergo-Coaches sollen zudem neue Entwicklungen bei Hilfsmitteln im Auge behalten – und auch mal um die Ecke denken.
Wichtig ist das nicht zuletzt, weil der Bedarf steigt. Älter werden mit Behinderung ist ein Thema für uns, so Werner. Mit mehr Menschen im Rollstuhl wird ergonomisches Arbeiten noch bedeutsamer. Wir müssen uns darauf einstellen, dass Menschen pflegebedürftiger werden. Körperlich ist es bereits herausfordernder für unsere Kolleginnen und Kollegen geworden.
Die Ergo-Coaches und -Coachinnen sind als Ansprechpersonen inzwischen bekannt, auch dank interner Kommunikationsmaßnahmen. Allerdings ist noch einiges zu tun. Zum Beispiel: Wie erkennen Mitarbeitende überhaupt, dass es noch Verbesserungsmöglichkeiten in ihrem Arbeitsalltag geben könnte – um dann nachzuhaken? Wenn es nach Kathrin Werner geht, lassen sie sich künftig vielleicht auch mal beobachten.
Daniel Löser und Kathrin Gohlke werden sich 2025 weiter für Bewusstseinsschärfung in den Teams und für die Etablierung der Strukturen einsetzen. Sie sind zuversichtlich, dass das Vorhaben "Ergo-Coach" zum Erfolg wird. Vor allem, weil in der Johannesstift Diakonie Proclusio gGmbH das Engagement für die Ergonomie als gut investiert angesehen wird. Da entsteht mittlerweile schon eine Anspruchshaltung, zum Beispiel bei der Auswahl von Hilfsmitteln, sagt Löser. Es ist schön zu sehen, dass selbstverständlich wird, was eigentlich gar nicht selbstverständlich ist!
So geht gute Praxis
So geht gute Praxis
Ergonomie erlebbar machen (1/3)
Das Unternehmen hat unter anderem einen Raum für individuelle Schulungen eingerichtet, der mit Pflegebett, verschiedenen Liftern und Hilfsmitteln ausgestattet ist. Mitarbeitende können dort ergonomisches Arbeiten ausprobieren – und sich zum Beispiel selbst in einen Lifter setzen. So etwas ist sehr effektiv, weil es über die Gefühlsebene geht und Identifikation schafft, sagt Ergonomie-Koordinator Daniel Löser.
Leistungsberechtigte einbeziehen und beraten (2/3)
Die Johannesstift Diakonie Proclusio gGmbH hat sich vorgenommen, die Ergo-Coaches schon einzubinden, bevor und während Menschen mit Behinderungen in die Einrichtung einziehen. Gemeinsam soll unter anderem betrachtet werden, welche Hilfsmittel den Beschäftigten ergonomisches Arbeiten ermöglichen und wie sie beschafft werden können. Bewohnerinnen und Bewohner werden auch beraten, falls sie zum Beispiel Vorbehalte gegenüber der Nutzung eines Lifters haben.
Ergo-Coaches als interne Expertinnen und Experten (3/3)
Die Ergo-Coachinnen und Ergo-Coaches kommen bei Bedarf zum Beispiel im betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) zum Einsatz. Fachbereichsverantwortliche Kathrin Werner: Hier hatten wir bei Rückenproblemen schon die Rückmeldung, dass es total hilfreich war, dass sich jemand mal jede Situation angeschaut und Lösungen gefunden hat. Das war dann übrigens ganz einfach! Aber manchmal kommt man auf die Dinge halt nicht.
Was zum Erfolg beiträgt
Zeit: In diesem Beispiel werden pro Ergo-Coach/-Coachin zunächst 100 Stunden im Jahr frei zur Verfügung gestellt.
Ergonomie-Budget: Neben den personellen Ressourcen wird unter anderem in die Beschaffung von geeigneten ergonomischen Hilfsmitteln investiert.
Gute Leute an der Basis: Interessierte Mitarbeitende engagieren sich für das Thema – und erhalten die entsprechende Unterstützung.
Feste Strukturen: Rückhalt von oben und die Einbindung in die betrieblichen Strukturen vom Arbeitsschutz bis zum Eingliederungsmanagement sind für das Gelingen essenziell.
Nachhaltigkeit: Bis man alle Mitarbeitenden erreicht, abholt und das Thema nachhaltig etabliert, dauert es. Das Selbst-Erleben“ und Verstehen baut Widerstände ab.
Externe Begleitung: Ohne die Unterstützung wären wir jetzt nicht so weit, vor allem hätten wir noch nicht diesen konzeptionellen Rahmen geschaffen“, sagt Daniel Löser.
BGW Ergo-Coach
Das kombinierte Beratungs- und Qualifizierungskonzept richtet sich an stationäre Altenpflegeeinrichtungen, Krankenhäuser und Wohnheime für Menschen mit Behinderungen. Im Kern steht die Qualifizierung von Beschäftigten aus der Pflege zu Ergo-Coaches und Ergo-Coachinnen. Sie nehmen dazu an drei dreitägigen Seminaren teil. Damit das Vorhaben nachhaltig wirken kann, bezieht eine begleitende externe Beratung die Unternehmensleitung sowie die Führungskräfte mit ein. Für Letztere findet zum Beispiel gleich zu Beginn ein Seminar statt.
Tipp: BGW forum 2025
Auf dem Fachkongress BGW forum 2025 „Sicher und gesund in der Behindertenhilfe“ werden das Angebot und die Erfahrungen der Einrichtung vorgestellt.