Strategie gegen Gewalt? Hinschauen und handeln! Artikel erschienen in: BGW magazin, Ausgabe 1/2020
Jörg Ferber ist Fachkraft für Arbeitssicherheit. Jemand, den man um Rat fragt, wenn es um Übergriffe gegen Beschäftigte geht. Jemand, der sich engagiert und sagt: Mehr Sicherheit in Gesundheitseinrichtungen braucht zwar einen langen Atem, lässt sich aber mit vorhandenen Stellschrauben bewerkstelligen. Das Beispiel des Krankenhauses St. Joseph-Stift Bremen zeigt, welche Schritte wichtig sind.
Im Herbst 2015 trat Jörg Ferber seine halbe Stelle als interne Fachkraft für Arbeitssicherheit im St. Joseph-Stift Bremen an. Schnell tauchte ein aktuelles Thema auf: Viele im Haus fühlten sich unsicher – was unter anderem auf mehrere Einbrüche sowie zunehmende Konflikte mit Patientinnen, Patienten und Angehörigen zurückzuführen war.
Mit einem Projekt zur Kommunikation hatte man bereits vieles ins Rollen gebracht, doch wie genau sollte der Umgang mit Gewalt und Aggressionen gestaltet werden? Ferber, der seit Langem Krankenhäuser, aber auch Rettungsdienste, ambulante Pflegeeinrichtungen und andere Betriebe betreut, konnte seine Beratungsexpertise einbringen.
Ein Ausgangspunkt für das St. Joseph-Stift mit seinen rund 920 Beschäftigten war die Meldung und Bearbeitung von Vorfällen. Man fing gerade erst an, sie systematisch zu erfassen. Es gab auch einzelne Maßnahmen, zum Beispiel in Brennpunktbereichen wie der Notaufnahme. Aber für die Mitarbeitenden war kein geregeltes Vorgehen im Haus erkennbar
, sagt Jörg Ferber.
Deshalb wurde die "AG Sicherheit" gegründet, die sich seit rund dreieinhalb Jahren um alle Fragen zu Übergriffen kümmert. Ferber ist Mitglied, hat viele Maßnahmen mitentwickelt und umgesetzt – und gibt heute bei Kongressen und anderen Veranstaltungen die Erfahrungen weiter.
Wie die AG Sicherheit funktioniert
- Monatliche Treffen
- Koordination von Maßnahmen
- Erfassung, Dokumentation, Nachsorge von Ereignissen
- Ablaufpläne
- Mailticker zur Information der Beschäftigten
- Bericht in GF- und Leitungsrunden
- Externe Beratung durch BGW und Polizei
- Zutrittskontrolle
- Alarmknopf, Telefone, Anlaufpunkt
- Bauliche Gestaltung
- Videokontrolle
- Beschilderung und Raumausstattung
- Begehungen
- Befragung zur psychischen Belastung
- Unfallanalysen, Übergriffstatistik, Beschwerden, Meldung kritischer Vorfälle (CIRS)
- Hausordnung (in mehreren Sprachen), Hausverweis, Hausverbot
- Sicherheitsdienst: Aufgaben, Zeiten
- Juristische Unterstützung
- Versicherungsschutz
- Erweitertes Präventionskonzept zu sexualisierter Gewalt
- Unterweisungen
- Deeskalations- und Kommunikationsschulungen
- Zwei interne Deeskalationstrainer/-innen
- Informationen unter anderem im Intranet und in Handbüchern
Diese Punkte spielen für Jörg Ferber eine wichtige Rolle im St. Joseph-Stift:
Strategien gegen Gewalt: Zitate
"Das Thema Gewalt und Aggression taucht meist an verschiedenen Stellen im Betrieb auf – vom Beschwerde- und Qualitätsmanagement über das betriebliche Vorschlagswesen bis zur Unfallmeldung. Vernetzen Sie das sinnvoll und schaffen Sie eine einheitliche Anlaufstelle."
Im St. Joseph-Stift Bremen werden alle Informationen in der AG Sicherheit gebündelt, die monatlich tagt und breit besetzt ist – auch die betriebliche Interessenvertretung ist beteiligt. Die Kontaktmöglichkeiten sind im ganzen Haus bekannt. Unter anderem über einen Mailticker wird die Arbeit der AG für alle sichtbar gemacht.
"Vorfälle müssen bekannt sein und zentral bearbeitet werden. Wir haben einen internen Unfallmeldebogen eingeführt, der speziell auch Übergriffe und Bedrohungen sowie Beinaheunfälle erfasst. Zudem kann man Vorschläge machen, wie sich Ähnliches zukünftig verhindern ließe."
Der Meldebogen schafft die Basis für präventive Maßnahmen – ebenso dafür, dass Betroffene zeitnah Hilfe erhalten und eine langfristige Nachsorge möglich ist. Er sorgt weiterhin für Transparenz und vermittelt die Relevanz des Themas. Jörg Ferber erzählt: "Als unsere erste Statistik zu Übergriffen vorlag, war das Direktorium sofort überzeugt: '14 Fälle im letzten Jahr – wir müssen etwas tun!' Die Unterstützung der Leitungsebene ist entscheidend."
"Beschäftigen Sie sich nicht zu lange mit der Theorie. Schaffen Sie Strukturen, aber beschreiben Sie nicht gleich alle Abläufe im Detail. Definieren Sie Maßnahmen und gehen Sie zügig die ersten an."
Schon beim Auftakttreffen der AG Sicherheit fand ein Brainstorming zu möglichen Maßnahmen statt. Das Ergebnis waren rund 20 Themen, an denen zum Teil noch heute gearbeitet wird. Ein Maßnahmen-Verfolgungsplan stellt sicher, dass nichts aus dem Blick gerät.
"Ansatzpunkte sind in der Regel schnell gefunden. Ideen müssen aber noch bewertet und konkretisiert werden", sagt Ferber. Er empfiehlt, dabei auch Erfahrungen von außerhalb des Unternehmens einzubeziehen. "Die BGW ist gut für den Blick über den Tellerrand – hier gibt es viele Informationen, Handlungshilfen und Beratung. Tauschen Sie sich auch mit anderen Betrieben aus, zum Beispiel auf Fachveranstaltungen, oder holen Sie Rat von der Polizei ein. Von dort haben wir gerade wieder jemanden in unsere AG eingeladen, um über den Umgang mit größeren Gruppen zu sprechen."
"Setzen Sie an tatsächlichen Fällen und konkreten Beobachtungen an. So lassen sich bedarfsgerechte Maßnahmen entwickeln."
Der Maßnahmen-Mix ist je nach Unternehmen und Arbeitsbereich verschieden, weiß Ferber. Dennoch gibt es immer wieder mal Unvorhergesehenes – zum Beispiel eine Prügelei von Angehörigen in einem Wartebereich, die Polizei musste eingeschaltet werden. "Solche Fälle überraschen einen trotz guter Vorbereitung. Ziel muss es sein, sich Schritt für Schritt und mit Augenmaß auf erwartbare Situationen einzustellen. Die eigene Sicherheit der Beschäftigten steht in jedem Fall ganz oben", so Ferber.
"Wie lässt sich eine Gefährdung ausschließen oder zumindest stark reduzieren? Bauliche und technische Maßnahmen müssen mit hoher Priorität geprüft werden."
Eine der ersten Maßnahmen in Bremen war die Sicherung der Außentüren und die Festlegung von Schließzeiten. Alarmknöpfe, Kameras, Notrufschaltungen der Telefone: Viele technische Lösungen sind eng mit organisatorischen Fragen verknüpft, bis hin zu Unterweisungen. Im St. Joseph-Stift stehen solche Themen immer wieder auf der Tagesordnung. Um die Gegebenheiten vor Ort beurteilen zu können, finden regelmäßige Begehungen statt, speziell auch in den Außenbereichen und nachts.
"Alle Beteiligten müssen wissen, woran sie sind. Wie soll man in Akutsituationen und danach vorgehen? Wie sind die Verantwortlichkeiten? Eine Hausordnung, Ablaufpläne und ähnliche Handlungshilfen geben Rückhalt. Sie müssen aber klar kommuniziert werden."
In Bremen übernahm die Hausordnung eine Signalrolle: Sie wurde überarbeitet und definiert nun genauer die Erwartungen an alle Personen, die sich im Krankenhaus aufhalten. Und gibt den Mitarbeitenden explizit das Recht, einen Hausverweis auszusprechen. Ablaufpläne, Handlungsanleitungen, Formulare und weitere Informationen sind nicht nur im Intranet hinterlegt, sondern bewusst auch in Printform überall zugänglich. "So erreichen wir eine bessere Durchdringung", erklärt Ferber. Überhaupt wird die interne Kommunikation als entscheidend für den Erfolg von Maßnahmen gesehen. Die Beschäftigten sind informiert, welche Hilfe sie erwarten können – intern ebenso wie von der BGW als ihrer gesetzlichen Unfallversicherung. Schließlich handelt es sich bei Übergriffen in der Regel um einen Arbeitsunfall – und schnelle Unterstützung für Betroffene hilft, Langzeitfolgen zu vermeiden.
"Zum systematischen Umgang mit Gewalt und Aggressionen gehört, Beschäftigte in Sachen Deeskalation zu schulen. Das zeigt Handlungsoptionen auf."
Im St. Joseph-Stift Bremen wird gerade umgestellt: Bislang schulte ein externer Anbieter. Jetzt nimmt man die Trainings in die eigenen Hände. Jörg Ferber berichtet: "Wir haben zwei Personen zu Deeskalationstrainern ausbilden lassen – diese Qualifizierung wird von der BGW gefördert. Wir versprechen uns davon, noch mehr internes Wissen aufzubauen. Denn in den Trainings wird anhand der eigenen Erfahrungen der Teilnehmenden gearbeitet. Diese können den Anstoß für weitere Anpassungen geben."
"Kommen Sie rasch von einem zeitlich begrenzten Projekt zu dauerhaften Strukturen. Stellen Sie diese auf eine breite Basis im Unternehmen. Aber seien Sie sich bewusst, dass es nicht von heute auf morgen eine Lösung für alles geben kann."
"Die Fachkraft für Arbeitssicherheit und der Betriebsarzt oder die Betriebsärztin verfügen über viel Know-how – sie allein können aber ein systematisches Vorgehen nicht tragen", sagt Jörg Ferber über seine eigene Rolle. In Bremen sind daher wichtige Schnittstellen direkt in die AG Sicherheit eingebunden, die ergänzend zum Arbeitsschutzausschuss tätig ist. In der AG laufen die Fäden zur Gefährdungsbeurteilung für das Thema Gewalt und Aggression zusammen.
Die regelmäßigen Personalbefragungen werden auch im Hinblick auf die psychische Belastung ausgewertet. "Langer Atem ist unerlässlich, aber er lohnt sich", betont Ferber. "Wenn man dann feststellt, dass Vorgesetzte und Mitarbeitende das Thema ernst nehmen und bei konkreten Vorfällen entsprechend handeln, ist das eine tolle Bestätigung der gemeinsamen Arbeit."