Interventionen zur Gewaltprävention für Pflegeauszubildende und Studierende – eine Literaturstudie Auswertung und Ergebnisse der Literaturrecherche für Auszubildende und Studierende in der Pflege
Für viele Beschäftigte in Pflege- und Betreuungsberufen gehören Gewaltsituationen zum beruflichen Alltag.
Der Begriff Gewalt und Belästigung bezieht sich in der Arbeitswelt „auf eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, gleich ob es sich um ein einmaliges oder ein wiederholtes Vorkommnis handelt, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen, diesen zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, und umfasst auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung“ (ILO, 2019).
Prävalenzen von Beschäftigten in der Pflege- und Betreuungsbranche
Laut der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz gilt das Gesundheitswesen als besonders gefährdete Branche (Gehrke, 2017). Dies bestätigen auch die Zahlen der Unfallmeldestatistik der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), wonach 40 % der gemeldeten Gewaltunfälle in den Jahren 2017 bis 2021 dem Gesundheits- und Sozialwesen zuzuordnen sind (Thomann, 2023). Die hohe Betroffenheit von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz gegenüber Gesundheitspersonal wird sowohl weltweit in zahlreichen Reviews und Metaanalysen (Liu et al., 2019; Rossi et al., 2023) als auch für Deutschland in einem Review und Studien (Adler et al., 2021; Schablon et al., 2018; Schaller et al., 2021) bestätigt.
In Bezug auf Gewalt am Arbeitsplatz wurden u.a. Auszubildende und Studierende in der Pflege aufgrund ihres jungen Alters, ihrer Unerfahrenheit und ihrer mangelnden Berufserfahrung als besonders gefährdete Zielgruppe identifiziert (Mohamed et al., 2024). Neben anderen Faktoren ist Gewalterfahrung ein Grund für den vorzeitigen Abbruch der Ausbildung (Clark et al., 2012; Courtney‐Pratt et al., 2018; Dafny et al., 2023).
Zu diesem Zweck wurde eine systematische Literaturrecherche durchgeführt. Die Recherche zielte auf die Erreichung folgender Ziele ab:
- Prävalenzen (Betroffenheit) der Auszubildenden und Studierenden in der Pflege aufzeigen
- Einen Überblick über vorhandene Interventionen zur Gewaltprävention und zum Umgang mit Gewalt erhalten
- Wirksamkeit der verschiedenen Interventionen aufzeigen
- Handlungsempfehlung für die Entwicklung eines erweiterten Angebots Take Care – Unterrichtsmaterialien zur Gewaltprävention in Pflegeberufen (Ausbildung) geben
- Weitere Handlungsempfehlung für die Zielgruppe ableiten
Prävalenzen von Auszubildenden und Studierenden in der Pflege
Die Recherche ergab, dass Auszubildende und Studierende ebenso häufig von Gewalt am Arbeitsplatz betroffen sind wie Pflegekräfte (Mohamed et al., 2024). Die höchsten Prävalenzen ergaben sich für verbale Gewalt (66,1 %) und Mobbing (61,5 %), gefolgt von sexualisierter Gewalt und Belästigung (21,3 %), physischer Gewalt (17,3 %) und Bedrohungen (10,9 %). Diese Tendenz wird in weiteren Übersichtsarbeiten bestätigt (Hallett et al., 2023; Lu et al., 2024). Die Übersichtsarbeiten identifizierten Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte, Patientinnen und Patienten, Angehörige, anderes Gesundheitspersonal, Lehrkräfte, Tutorinnen und Tutoren sowie Vorgesetzte als Berufsgruppen, von denen die Gewalt ausgeht (Hallett et al., 2023; Mohamed et al., 2024). Am häufigsten geht die Gewalt von Pflegekräften (24,2 %), Patientinnen und Patienten (22,8 %) aus, gefolgt von Lehrkräften (16,3 %), anderen Auszubildenden und Studierenden (13,2 %), Personal aus der Praxisanleitung und betriebliche Mentorpersonen (12,6 %), medizinischem Hilfspersonal (9,9 %), Angehörigen (9,4 %), Ärztinnen und Ärzte (8,5 %) sowie Pflegedienstleitungen (7,5 %) (Mohamed et al., 2024). Es wird angenommen, dass die Dunkelziffer bei der Meldung von Gewaltereignissen durch Auszubildende und Studierende in der Pflege signifikant ist und die eigentlichen Prävalenzen deutlich höher liegen (Hallett et al., 2023; Mohamed et al., 2024). Die Berücksichtigung von Gewaltprävention in der Ausbildung ist somit eine der wesentlichen Herausforderungen und ein Beitrag, dem Fachkräftemangel in der Pflege und Betreuung zu begegnen.
Interventionen zur Gewaltprävention und zum Umgang mit Gewalt für Auszubildende und Studierende in der Pflege
Es wurde international bereits eine Vielzahl von Interventionen für Pflegekräfte entwickelt, die sich dem Thema Gewaltprävention widmen. Die Programme, die für Pflegekräfte entwickelt wurden, lassen sich nicht für Pflegeauszubildende und -studierende nutzen, da diese oft unerfahrener im Umgang mit Gewaltsituationen sind und über weniger fachliches Wissen verfügen. Es existieren nur wenig Studien, welche Interventionen entwickelt haben, die sich auf die Gruppe der Auszubildenden und Studierenden fokussieren.
Um einen Überblick über aktuelle Interventionen zu erhalten, wurde eine Literaturrecherche durchgeführt, mit dem Ziel, Studien zu identifizieren, welche Interventionen zur Gewaltprävention für Auszubildende und Studierende entwickelt haben und deren Wirksamkeit überprüft haben. Die Recherche wurde auf den Datenbanken PsycInfo, PubMed und Cinahl durchgeführt.
Es konnten drei Übersichtarbeiten identifiziert werden, welche 15 Studien mit Auszubildenden und Studierenden in der Pflege aus den Jahren 2001 bis 2018 berücksichtigen. Die Studien befassen sich mit der Prävention und dem Umgang mit erlebter Gewalt am Arbeitsplatz. Zwei der einbezogenen Studien wurden in Deutschland entwickelt. Darüber hinaus konnten sechs aktuelle Studien aus den Jahren ab 2019 identifiziert werden.
Die Analyse ergab, dass die Mehrzahl der einbezogenen Studien eine Kombination aus theoretischen Inputs und praktischen Übungen aufwiesen. Einige Intervention wurden als praktische Übung konzipiert, die den Standardlehrplan ergänzen sollten. In den Interventionen wurde sowohl psychische als auch physische Gewalt thematisiert.
Die Evaluierung der Wirksamkeit ergab eine Steigerung des Bewusstseins für Gewalt am Arbeitsplatz bei den Teilnehmenden. Die Teilnehmenden erwarben fundiertes Wissen zu den verschiedenen Formen und Typen von Gewalt am Arbeitsplatz sowie zu den ausgehenden Personengruppen im Pflegeberuf (Jantzen et al., 2024). Darüber hinaus wurde das Bewusstsein für das eigene Verhalten sowie die Bedeutung und Wichtigkeit respektvoller Kommunikation gefördert (Yang & Kim, 2022).
Die Auswertung der Interventionen zeigt zudem eine Steigerung des Selbstvertrauens und der Selbstwirksamkeit im Umgang mit Gewaltsituationen. Die Teilnehmenden gaben an, dass sie sich nach den Interventionen sicherer fühlten, potenziell bedrohliche Situationen vorherzusehen, diese zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren (Jantzen et al., 2024; Jeong & Lee, 2020; Nag et al., 2023; Yang & Kim, 2022).
Handlungsempfehlungen
Die Analyse ergibt, dass das Thema Gewaltprävention in den Lehrplänen noch nicht ausreichend verankert ist. Für die Vermittlung des Themas Gewaltprävention existieren bislang keine festen Vorgaben für die Ausbildung und das Studium. In Deutschland wurde durch die Fachkommission gemäß §53 Pflegeberufegesetz (PflBG) ein Rahmenlehrplan für die Pflegeausbildung entwickelt. Dieser dient als Orientierungshilfe für Pflegeschulen und Träger der praktischen Ausbildung bei der Entwicklung von schulinternen Curricula und Ausbildungsplänen. Laut dem Rahmenlehrplan soll das Thema Gewaltprävention im dritten Ausbildungsjahr thematisiert werden. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Rahmenlehrplan lediglich eine empfehlende Wirkung hat (Fachkommission nach § 53 Pflegeberufegesetz, 2019). Somit obliegt es den Pflegeschulen, in welchem Umfang und Ausmaß das Thema Gewaltprävention in den Curricula umgesetzt und wie Inhalte zum Thema methodisch vermittelt werden. Aus diesem Grund sollte das Thema Gewaltprävention als fester verpflichtender Bestandteil in die Curricula der Pflegeausbildung und des Pflegestudiums integriert und verankert werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass Auszubildende und Studierende frühzeitig und umfassend auf den Umgang mit Gewaltsituationen vorbereitet werden und Sicherheit im Umgang mit diesen Situationen erlangen. Eine Zusammenarbeit zwischen Ausbildungseinrichtungen, Hochschulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen ist für die Umsetzung von essenzieller Bedeutung. Durch den engen Austausch können für die Zielgruppe geeignete und evidenzbasierte Präventionsmaßnahmen gemeinsam entwickelt und in die theoretische Ausbildung sowie in die praktischen klinischen Einsätzen integriert werden. Zudem kann durch eine Vernetzung gewährleistet werden, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse bei der Entwicklung von Präventionsmaßnahmen berücksichtigt und diese fortlaufend aktualisiert und verbessert werden. Um zukünftige Präventionsmaßnahmen effektiv, nachhaltig und effizient gestalten zu können, ist es unerlässlich, den theoretischen Teil der Ausbildung und des Studiums eng mit der Praxis zu verknüpfen.
Literaturquellen
Adler, M., Vincent-Höper, S., Vaupel, C., Gregersen, S., Schablon, A. & Nienhaus, A. (2021). Sexual Harassment by Patients, Clients, and Residents: Investigating Its Prevalence, Frequency and Associations with Impaired Well-Being among Social and Healthcare Workers in Germany. International journal of environmental research and public health, 18(10). https://doi.org/10.3390/ijerph18105198
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Clark, C. M., Kane, D. J., Rajacich, D. L., & Lafreniere, K. D. (2012). Bullying in Undergraduate Clinical Nursing Education. Journal of Nursing Education, 51(5), 269–276. https://doi.org/10.3928/01484834-20120409-01
Courtney‐Pratt, H., Pich, J., Levett‐Jones, T., & Moxey, A. (2018). “I was yelled at, intimidated and treated unfairly”: Nursing students’ experiences of being bullied in clinical and academic settings. Journal of Clinical Nursing, 27(5–6). https://doi.org/10.1111/jocn.13983
Dafny, H. A., McCloud, C., Pearson, V., Brown, S., Phillips, C., Waheed, N., Freeling, M., Parry, Y. K., & Champion, S. (2023). Nursing students’ experience of workplace violence in clinical practice: A qualitative systematic re-view. Journal of Clinical Nursing, 32(17–18), 6136–6164. https://doi.org/10.1111/jocn.16746
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Liu, J., Gan, Y., Jiang, H., Li, L., Dwyer, R., Lu, K., Yan, S., Sampson, O., Xu, H., Wang, C., Zhu, Y., Chang, Y., Yang, Y., Yang, T., Chen, Y., Song, F. & Lu, Z. (2019). Prevalence of workplace violence against healthcare workers: a systematic review and meta-analysis. Occupational and environmental medicine, 76(12), 927–937. https://doi.org/10.1136/oemed-2019-105849
Lu, X, Hou, C., Bai, D., Yang, J., He, J., Gong, X., Cai, M., Wang, W., Gao, J. (2024). Prevalence, associated factors, and nursing practice-related outcomes of workplace violence towards nursing students in clinical practice: A systematic review and meta-analysis. Nurse Education Today 133 (2024) 106074. https://doi.org/10.1016/j.nedt.2023.106074
Mohamed, F. B. M., Cheng, L. J., Chia, X. E., Turunen, H., He, H.-G. (2024). Global prevalence and factors associated with workplace violence against nursing students: A systematic review, meta-analysis, and meta-regression. Aggression and Violent Behavior 75 (2024) 101907. https://doi.org/10.1016/j.avb.2023.101907
Nag, T., Gjestad, R., Senneseth, M. (2023). Effects of de-escalation training on student nurses’ skills and confidence. Sykepleien Forskning 2023; 18(92716):e-92716. DOI: 10.4220/Sykepleienf.2023.92716en
Rossi, M. F., Beccia, F., Cittadini, F., Amantea, C., Aulino, G., Santoro, P. E., Borrelli, I., Oliva, A., Ricciardi, W., Moscato, U. & Gualano, M. R. (2023). Workplace violence against healthcare workers: an umbrella review of systematic reviews and meta-analyses. Public health, 221, 50–59. https://doi.org/10.1016/j.puhe.2023.05.021
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