Junger Mann mit Warnweste, Helm und kurzen Hosen steht an einem Lastenrad - er holt eine Kiste aus einem Behälter hinten auf dem Rad.

Frisch geliefert: Inklusion BGW unterstützt Forschungsprojekt InkluServ: Menschen mit Behinderungen erhalten Chance als Supermarkt-Kuriere

In Plochingen sieht man sie jetzt öfter radeln: die sympathischen Fahrerinnen und Fahrer der Werkstätten Esslingen-Kirchheim, kurz WEK, auf ihren E-Bikes mit den markanten grünen Gepäckboxen. Was befindet sich darin? Müsli, Olivenöl, Joghurt, Taschentücher zum Beispiel – sprich alles, was der inklusive Supermarkt „Um’s Eck“ der WEK zu bieten hat. Die Kundschaft freut das, besonders seit in der Corona-Pandemie auch das Bestellen von Lebensmitteln zum Trend wurde. Damit alle bei der Arbeit sicher und gesund bleiben, bringt die BGW ihr Know-how ein.

Junger Mann mit Warnweste und Helm schaut auf ein Smartphone und tippt etwas ein.

Und wenn es mal Probleme unterwegs gibt? Dann kann der Kurier mit jemandem in der Zentrale sprechen.

Dass die Beschäftigten der WEK kreuz und quer durch den Plochinger Stadtteil Stumpenhof fahren, ist gar nicht so selbstverständlich. Denn für sie ist manches Hindernis, das andere einfach meistern, eine enorme Herausforderung: Ein gesperrter Weg wegen einer Baustelle, eine unzufriedene Kundin, ein Käufer hat zu wenig Bargeld zu Hause. Genau hier setzt das Projekt InkluServ an. Moderne Technik und ein starker Rückhalt im Betrieb ermöglicht Menschen mit Behinderungen, neuen Tätigkeiten nachzugehen - und dabei erfolgreich zu sein.

Projekt InkluServ auf den Punkt gebracht: Wer macht was?

Schwerbehinderte Mitarbeitende eines inklusiven Supermarkts und Cafés kommen Dank InkluServ in die Lage, außerhalb ihrer unmittelbaren Betreuungsbereiche selbstständig mit der Kundschaft zu interagieren. Die WEK Werkstätten Esslingen-Kirchheim gGmbH standen im Mittelpunkt des Projekts und führten unter anderem maßgeschneiderte Qualifizierungsmaßnahmen für die Beschäftigten durch. Auf Smartphones wurde ein barrierefreies Assistenzsystem installiert. Ein Bestandteil dessen ist das Tourenplanungssystem des Projektpartners GTS Systems and Consulting (Aachen). Das System wurde für die Nutzung durch Auslieferungsfahrer und -fahrerinnen angepasst, indem Sicherheitsfunktionen und individuelle Kriterien in die Tourenberechnung, Navigation und Webshop-Gestaltung integriert wurden. Weitere Funktionen unterstützen die Beschäftigten beim Interagieren mit Kunden und Kundinnen. Ebenfalls mit im Boot sind das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO, Stuttgart). Das IAO leitete die Entwicklung der Sicherheits- und Unterstützungsfunktionen des Assistenzsystems und erforschte die Anforderungen der Kundenarbeit an die Fahrerinnen und Fahrer. Die BGW, steuert ihr Know-how rund um sicheres und gesundes Arbeiten bei.

Dreh- und Angelpunkt sind die Smartphones an den Rädern

Auf den ersten Blick sehen die Kurierräder so aus wie überall. Am Lenker befindet sich ein Smartphone, das es in sich hat: Digitale Assistenzfunktionen für Tourenplanung und Navigation berücksichtigen die individuellen Fähigkeitsprofile, um Über- und Unterforderung der Kuriere zu vermeiden.

Heißt konkret: Die geplanten Liefertouren werden entsprechend der körperlichen Kondition der Fahrerinnen und der Schwierigkeit der Tour geplant und gestaltet. Beispielsweise werden manchen Fahrerinnen und Fahrern nur einzelne Kunden pro Tour (Hin- und Rückfahrt) zugewiesen, um die physische und psychische Belastung zu senken und es dem betreuenden Personal zu ermöglichen, die Verfassung des Fahrers oder der Fahrerin bei jeder Rückkehr zum Supermarkt zu beurteilen.

Galerie: InkluServ

Die Navigationsfunktion ist zum Beispiel durch starke Kontraste und Formulierungen in einfacher Sprache barrierearm gestaltet. Je nach Person werden einzelne Wegstrecken zum Beispiel mit zu großem Gefälle oder zu hohem Verkehrsaufkommen von der Tour ausgeschlossen. Für kritische Situationen enthält das Assistenzsystem zudem eine Videofunktion, die bei Betätigung eine direkte Verbindung zu einer betreuenden Person der WEK aufbaut. So können die Fahrerinnen und Fahrer schnell beim Disponenten  nachfragen, wenn sie mal nicht weiterwissen.

Der Erfolg des Projekts InkluServ liegt uns am Herzen. Denn es zeigt vorbildlich, wie moderne Technik Menschen mit Behinderungen im Job fördern kann.

Porträt: Björn Menberg, Aufsichtsperson BGW Karlsruhe
Björn Menberg
Aufsichtsperson, BGW Bezirksstelle Karlsruhe

Eine Säule des Erfolgs: Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit

In den Gesprächen mit den Projektbeteiligten fällt beim Thema Gesundheitsschutz häufig der Name BGW. Die Berufsgenossenschaft ist gemäß ihres gesetzlichen Auftrags in Gesundheitsfragen für die WEK zuständig. Björn Menberg und Thorsten Wehde von der BGW-Bezirksstelle Karlsruhe kennen sich bestens mit dem Projekt aus. Wir haben das Projekt InkluServ in seiner Entstehungsphase mit Informationen zu Präventionsmaßnahmen unterstützt, sagt Björn Menberg. Und Thorsten Wehde ergänzt: Außerdem sind wir Gesprächspartner für die Gefährdungsbeurteilung, die speziell für die Auslieferungsfahrten erstellt wurde und nun kontinuierlich weitergeschrieben wird.

Bei den WEK weiß man das Engagement zu schätzen: Die BGW war für uns auch ein wertvoller Feedbackgeber zur Erstellung der Gefährdungsbeurteilung für die Auslieferungsfahrten, sagt Eva Gerstetter, Werkstätten Esslingen-Kirchheim. Und weiter: Die BGW hat viel Zeit und Wissen in die Begleitung des Projekts InkluServ eingebracht. Von ihrem Know-How zum Arbeitsschutz in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen haben sowohl die Sicherheits- als auch die Qualifizierungsmaßnahmen für die schwerbehinderten Auslieferungsfahrer profitiert.

Die BGW im Projekt InkluServ: Was läuft da konkret?
  • Die BGW unterstützt mit InkluServ ein Modellprojekt mit einer neuen Geschäftsidee und Möglichkeiten der Teilhabe von Menschen mit Behinderung.
  • Als Berufsgenossenschaft ist die BGW im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrags beratend im Projekt dabei: Sie informiert die Beteiligten zur Prävention von Gefährdungen und Belastungen. Sie unterstützt zudem bei der Erstellung und Fortschreibung der Gefährdungsbeurteilung.
  • Die BGW half und hilft mit, dass Inhalte in Leichte Sprache übersetzt werden. Ein weiterer Punkt ist die Unterstützung bei der Überprüfung der Mensch-/App-Schnittstelle auf Verständlichkeit bei Menschen mit Einschränkungen.

Auch David Kremer, der vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation aus am Projekt beteiligt ist, äußert sich zum Beitrag der Berufsgenossenschaft: Die BGW hat im Projekt detailliert auf Gefährdungsquellen für Auslieferungsfahrten mit dem Lasten-E-Bike hingewiesen. Diese Informationen haben geholfen, die Sicherheitsfunktionen des digitalen Assistenzsystems passgenau zu entwickeln und die innovative Tourenplanung für die Auslieferungsfahrten so zu gestalten, dass die Belastung für die Fahrer individuell gesteuert werden kann. Außerdem hat die BGW ermöglicht, dass die Texte der Fahrer-App durch eine Agentur für Leichte Sprache geprüft wurden, und so zur barrierearmen Gestaltung der Fahrer-App beigetragen.

Erfolgsfaktor Beteiligung

Die Werkstattbeschäftigten wurden in die Entwicklung des Assistenzsystems aktiv einbezogen. In mehreren Tests haben sie Rückmeldung zur Verständlichkeit der Funktionen und zum barrierefreien Design des Assistenzsystems geben. Auch die Betreuenden der Beschäftigten sind wichtige Ansprechpersonen für die Optimierung des Systems, da sie die Tourenplanung bedienen und die Fahrerinnen und Fahrer im Auslieferungsprozess mit Rat und Tat unterstützen.

Zur rechten Zeit in der richtigen Marktlücke

Junger Mann mit Warnweste, Helm und kurzen Hosen liefert eine Kiste mit Gemüse an eine Haustür. Eine junge Frau nimmt die Kiste entgegen.

Übergabe an die Kundin: Der junge Mann mit Warnweste liefert eine Kiste mit Gemüse bis an die Haustür.

Die WEK leisten nicht nur einen Beitrag zur Inklusion, also der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben. Sie stoßen auch in eine Marktlücke, die sich nicht zuletzt durch Corona ergeben hat. Seit Beginn der Pandemie haben sich die Bestellungen bei Lieferdiensten vervielfacht. Besonders alte, kranke und bewegungseingeschränkte Personen sind darauf angewiesen, dass ihnen Nahrungsmittel und Produkte für den täglichen Bedarf an die Haustür geliefert werden.

Die BGW hat das Ziel, Inklusion in ihren Mitgliedsbetrieben zu fördern. Wir stellen Interessierten gern unsere Erfahrungen, auch aus dem Projekt InkluServ, zur Verfügung.

Thorsten Wehde, Aufsichtsperson, BGW-Bezirksstelle Karlsruhe
Thorsten Wehde
Aufsichtsperson, BGW Bezirksstelle Karlsruhe

Nicht anders sieht es in Plochingen aus: Das Rückgrat der Versorgungsleistung durch Lieferservices wie den Supermarkt „Um’s Eck“ sind die Auslieferungsfahrer und Fahrerinnen. Durch die richtigen Technologien und Service-Angebote können auch Menschen mit Behinderung diese Aufgabe übernehmen und selbst erfolgreich für ihre Werkstatt ausliefern.

Inklusion tut allen gut

Für Menschen mit Behinderung gilt das Motto „Sicherheit durch Sichtbarkeit“ nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch für ihre Präsenz in der Gesellschaft. Nur wer gesehen wird, dessen Bedürfnisse können von den Mitmenschen berücksichtigt werden.

Für die Menschen im Stadtteil beutet die Arbeit des Lebensmittelmarktes "Um's Eck" ein Plus an Lebensqualität: Der Stadtteil Stumpenhof hatte keinen Nahversorger mehr. Deshalb konnten insbesondere ältere Menschen ihre Einkäufe nur noch schwer erledigen. Diese Lücke haben die WEK geschlossen. Jetzt können alle Menschen aus der direkten Nachbarschaft einkaufen.

Durch das Projekt InkluServ erhält das Ganze noch ein Sahnehäubchen. Denn die Kundschaft kann sich die Waren sogar bringen lassen – und kriegt ganz nebenbei ein Paradebeispiel für Inklusion frisch nach Hause geliefert. Da können andere sich ruhig mal eine Scheibe von abschneiden.