Ukraine-Krieg: Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen #54 BGW-Podcast "Herzschlag - Für ein gesundes Berufsleben"
Der Krieg in der Ukraine ist in vielen sozialen Einrichtungen, Kitas oder auch Schulen ein großes Thema. Wie gehen Pädagoginnen und Pädagogen am besten mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen um?
Wie lassen sich Sprachbarrieren überwinden? Und wie gelingt ein angemessener Umgang mit den Eltern der geflüchteten Kinder? Antworten darauf bekommen wir in dieser Folge von zwei Expertinnen. Außerdem wird uns ein Erzieher und eine Erzieherin berichten, wie ihr Arbeitsalltag mit geflüchteten Kindern aus der Ukraine aussieht.
Wie lassen sich Sprachbarrieren überwinden? Und wie gelingt ein angemessener Umgang mit den Eltern der geflüchteten Kinder? Antworten darauf bekommen wir in dieser Folge von zwei Expertinnen. Außerdem wird uns ein Erzieher und eine Erzieherin berichten, wie ihr Arbeitsalltag mit geflüchteten Kindern aus der Ukraine aussieht.
Hier kommen Sie zum Transkript dieser Folge
Block 01: Einleitung und Begrüßung
Einleitung: Mehr als sechseinhalb Millionen Menschen sind aufgrund des Krieges in der Ukraine ins Ausland geflüchtet. Das geht aus den Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hervor.
Es fehlt an Konzepten, Personal und psychologischer Betreuung. Lehrervertreter beklagen die schlechte Vorbereitung der Schulen bei der Integration von Kindern, die vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland geflohen sind.
In den Köpfen der geflüchteten Kinder geht der Krieg weiter.
Moderator: Wahrscheinlich kann keiner von uns nur ansatzweise nachvollziehen, wie es den Menschen geht, die aufgrund der Kriegssituation in der Ukraine flüchten mussten, umso größer die Herausforderung für Beschäftigte, die zum Beispiel in sozialen Einrichtungen, Kitas und Schulen arbeiten. Wie gehen Pädagoginnen und Pädagogen am besten mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen um? Wie lassen sich Sprachbarrieren überwinden? Und wie gelingt ein angemessener Umgang mit den Eltern der geflüchteten Kinder? Eine Blaupause gibt es dafür wahrscheinlich nicht. Jede Menge Tipps jedoch und die bekommen wir heute von zwei Expertinnen, die sich mit Psychologie und Pädagogik sehr gut auskennen. Ich bin Ralf Podszus und begrüße Sie zu dieser neuen Podcast-Folge.
(Podcast-Opener)
Block 02: Interview mit Ria Uhle und Ilka Arnhold
Moderator: Es gibt viele Faktoren, die eine Rolle spielen beim Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die vor dem Krieg geflüchtet sind. Wir wollen das ganze jetzt mal aus psychologischer und pädagogischer Sicht anschauen. Und dazu begrüße ich Ria Uhle. Sie ist Diplompsychologin, Notfallpsychologin und Psychotherapeutin. Ich grüße Sie.
Ria Uhle: Herzlichen Gruß aus Berlin.
Moderator: Sie arbeitet für das Zentrum für Trauma- und Konfliktmanagement und als Koordinatorin für Schulpersonal in der Berliner Bildungsverwaltung, ja, und kennt sich damit sehr gut aus, mit der psychischen Gesundheit. Und die Zweite bei mir ist Ilka Arnhold. Sie ist Diplompsychologin, Supervisorin und Kunsttherapeutin. Sie berät unter anderem Menschen und Institutionen zu den Themen gesundes Arbeiten und Stressbewältigung. Schön, dass Sie hier sind, Frau Arnhold.
Ilka Arnhold: Ja, guten Tag auch von mir heute auch aus Berlin, sonst lebe ich und arbeite ich in Leipzig.
Moderator: Und als Kunsttherapeutin leiten Sie auch seit vielen Jahren kreative Selbstfürsorge Seminare für Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher. Erklären Sie mal, was muss man da vor allem am meisten vermitteln?
Ilka Arnhold: Ja, ich habe Kunst als Ressource inzwischen entdeckt, als eine Möglichkeit, etwas für sich zu tun. Und das, was wichtig ist, ist sich zunächst erstmal zu erlauben, was Schönes zu machen für sich. Ich darf für mich was Gutes tun und in diesem Falle bei mir, mit Kunst und Natur.
Moderator: Sie beide kennen sich bereits, weil Sie für ein Projekt zusammengearbeitet haben, das zu unserer heutigen Folge sehr gut passt. Was war das für ein Projekt?
Ilka Arnhold: Also wir kennen uns nicht nur durch das Projekt, oder wegen dieses Projektes, sondern wir kennen uns schon 40 Jahre. Wir sind Schulfreundinnen, Studienkollegin, Berufskolleginnen in ganz unterschiedlichen Branchen und das, was uns über die Jahre immer verbindet, ist das Thema gesundes Arbeiten, gesunde Arbeit in ganz unterschiedlichen beruflichen Kontexten. Und wir werfen gerne mal in Projekten unsere Kompetenzen zusammen, wenn uns ein Thema besonders wichtig und sinnvoll erscheint, so wie wir es jetzt in dieser Broschüre gemacht haben, dass wir zusammenarbeiten zu diesem Thema. Und Frau Uhle kann vielleicht noch das eine oder andere sagen, wie es ganz konkret zu diesem Projekt gekommen ist.
Ria Uhle: Also was uns persönlich auch verbunden hat, war das gemeinsame Erleben, dass ukrainische Mütter mit ihren Kindern wenige Wochen nach Ausbruch des Krieges dann in unsere Nachbarschaften gekommen sind und wir ganz persönlich und konkret damit konfrontiert waren und uns Fragen gestellt haben, wie geht, es denen denn, in Kontakt gekommen sind, gesehen haben, ja wie Mütter mit ihren Kindern hier irgendwie zurechtkommen müssen, wie sie aber auch ganz große Solidarität in der Nachbarschaft erlebt haben. Und dann die Frage, ja, die Kinder brauchen eigentlich jetzt irgendwie ein Kita- oder Schulplatz, die Bleibeperspektiven sind sehr unterschiedlich. Und dann kam es zu einer sehr erfreulichen Nachfrage, nämlich von Thomas Weber, auch Psychologe und Leiter des Zentrums für Trauma- und Konfliktmanagement in Köln. Und der fragte uns: "Mensch, habt ihr Lust, dazu eine Broschüre zu schreiben?" Und das haben wir dann getan. Wir haben uns also im März, Anfang März ran gesetzt und eigentlich immer mit den Zeit-Ereignissen um die Wette geschrieben. Es ist ja in der Zeit ganz viel passiert und so ist dann also diese Broschüre entstanden.
Moderator: Welche Punkte werden in diesem Leitfaden behandelt?
Ilka Arnhold: Ja, diese Punkte würden wir ganz gerne erstmal vorstellen. Kurz, das beginnt mit an Erfahrung und Ressourcen anknüpfen. Uns ist deutlich geworden, dass ja Pädagogen schon viel Berufserfahrung haben und Krisen oder schwierige Situationen in letzter Zeit bewältigt haben, sei es schon 2015, eine Flüchtlingskrise oder eben die letzten drei Jahre mit Corona. Und das ist da schon ganz viel Kompetenz und Handlungsstrategien da sind. Und wir wollten mit diesem ersten Abschnitt besonders diese Erfahrungen würdigen und auch die Pädagogen ermutigen, darauf zurückzugreifen, dass sie etwas haben und nicht ganz bei null anfangen. Das war mit diesem Einleitungskapitel uns wichtig. Das zweite den Schulalltag gestalten, auch wenn schon eine ganze Weile jetzt mit dieser Situation umgegangen wird. Wir haben ja im März damit angefangen, das zu schreiben. Jetzt haben wir ein paar Monate später. Es hat sich schon vieles möglicherweise an Strukturen entwickelt, aber wir wollen zeigen, wie wichtig es ist, diesen Schulalltag zu strukturieren, zu gestalten und welche Punkte dabei wichtig sind und das stellen wir in diesem Kapitel dar.
Ria Uhle: Mit Traumareaktionen umgehen, das war uns natürlich ganz wichtig, weil das eine Frage ist, die Pädagoginnen und Pädagogen in ihrem Alltag sehr stark bewegt. Wir haben alle diese Bilder gesehen der ukrainischen Geflüchteten, die mit Zügen und Bussen angekommen sind und in blasse und übernächtigte Kindergesichter geschaut, also den Menschen auch angesehen, wie belastet sie sind. Das heißt nicht, dass sie unbedingt traumatisiert sind, aber Trauma wird sich im Schulalltag auch zeigen und wir möchten mit dieser Broschüre den Pädagoginnen und Pädagogen auch ein bisschen die Angst nehmen, mit dem Thema umzugehen. Ein weiteres Thema, was uns ja alle beschäftigt hat, mit Kindern und Jugendlichen über den Krieg reden. Als der Krieg angefangen hat, war das ja auch für uns hier in Deutschland ein unglaubliches Geschehen, mit dem wir uns alle beschäftigt haben und-.
Moderator: Das Wort Zeitenwende wurde auf einmal wieder heraus gekramt. Ja, genau.
Ria Uhle: Ja und das war genau das, diese Zeitenwende, die spüren wir ja immer noch. Das zieht sich jetzt durch und es gibt ja so ganz viele Veränderungen, die eben auch unser Leben beeinflussen und eben auch das Leben der Schulen beeinflussen und der Menschen, die da arbeiten.
Ilka Arnhold: Ein weiteres Kapitel, was wir als sehr wichtig empfunden haben, sind die Konflikte an Schulen, wenn so viel Neues passiert und so viel Belastendes auch und solche Anforderungen an Schulen kommen, dann entstehen natürlich automatisch Konflikte, mit denen umgegangen werden muss. Und es geht darum, Schule als ein sicheren als einen guten Ort sowohl für die, die schon immer dort sind, als auch natürlich für die, die jetzt dazukommen, zu gestalten. Und dieses Kapitel gibt einige Anregungen dazu, wie Schule als guter, sicherer Ort gestaltet werden kann.
Ria Uhle: Von meiner Seite noch eine kurze Ergänzung zu dem Thema Konflikte. Wir haben ja durchaus Konflikte zwischen Menschen russischer Herkunft und ukrainischer Herkunft, die sich eben auch in der Schule zeigen. Und das ist, was für Schulen auch ein wichtiger Punkt ist. Wie können wir damit umgehen, damit sowas wie ein friedlicher Schulalltag möglich ist? Wie können wir diese Konflikte angehen, wie können wir sie erkennen und frühzeitig deeskalieren auch?
Ilka Arnhold: Das nächste Kapitel, was uns wichtig war, war das Thema Elternarbeit. Das ist ja in der pädagogischen Arbeit sowieso immer Dauerbrenner. Und hier noch besonders, es kommen Eltern, vorrangig Mütter, mit ihren Kindern hier an. Mütter, die selber sehr belastet, sind Unterstützung brauchen. Die jetzt Schule und Kitas erleben als einen Ort, wo ihre Kinder wieder Struktur finden und sicher aufgehoben sind und dazu gehört es natürlich auch, dass gut mit den Eltern gearbeitet werden kann, dass sie alle nötigen Informationen haben und vielleicht auch die eine oder andere Unterstützung noch, die ihnen hilft in ihrer sehr belasteten Situation.
Also ich betreue zum Beispiel oder unterstütze, eine junge Psychotherapeutin mit ihrem fünfjährigen Kind und sehe sehr deutlich wie belastet sie in der letzten Zeit gewesen ist, mit allen organisatorischen Dingen, was sie alles machen muss und wie dankbar sie ist, jetzt über den Kitaplatz in diesem Falle, dass das Kind wieder eine kindgemäße Umgebung hat. Und wie sie dort in Zusammenarbeit und im Gespräch mit der Kita die besten Bedingungen für das Kind auch schaffen kann und wie wichtig es da auch ist, eine gute Kommunikation mit den Erzieherinnen zum Beispiel zu haben, damit ihr Kind gut und sicher betreut werden kann. In einer fremden Sprache in einer fremden Umgebung. Wie wichtig da Elternarbeit ist, dass die Eltern beruhigt sind.
Ria Uhle: Unser letzter Abschnitt widmet sich der Fürsorge der Schulleitung für das Kollegium, für die Schule insgesamt und dem Thema der Selbstfürsorge der Pädagogen und Pädagoginnen an der Schule. Da geht es einfach nochmal auch darum, woran ist zu denken, man darf an sich denken, zum Beispiel, was kann ich ganz konkret in meinem Alltag tun? Das gilt sowohl für Schulleitungen, die neben der Fürsorgepflicht natürlich auch gut für sich selber sorgen müssen und ebenso wie alle an der Schule Tätigen.
Moderator: Alle Informationen dazu finden Sie in den Shownotes dieser Podcast Folge. Ja, und ein paar Themen wollen wir nun ausführlicher besprechen. Sie haben es beide schon erwähnt. Frau Uhle, aus psychologischer Sicht, wie verarbeiten Kinder Traumata, die zum Beispiel durch Krieg, Zerstörung und Flucht ausgelöst werden?
Ria Uhle: Also grundsätzlich verarbeiten Kinder traumatische Situationen sehr unterschiedlich, weil die Situationen, die sie erlebt haben, auch sehr unterschiedlich sind und weil jeder Mensch auch unterschiedlich ist. Vielleicht noch mal ganz kurz, was wir als Psychologinnen und Psychologen unter Trauma verstehen. Trauma ist also eine sehr bedrohliche Situation, die unerwartet und plötzlich geschieht und dann heftige Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit hervorruft. Und zwar in der Regel bei fast allen Menschen, die davon betroffen sind.
Und wenn ich jetzt sage, die Kinder haben Unterschiedliches erlebt, muss man mal dran denken, dass die Kinder, die aus der Ostukraine gekommen sind, schon seit Jahren mit Krieg leben. Wir haben aber auch Kinder, die sind, noch bevor es zu großen Angriffen gekommen ist, auf die Flucht gegangen. Die haben natürlich belastende Erlebnisse, möglicherweise auf der Flucht auch erlebt, aber da gibt es schon Unterschiede.
Kinder verarbeiten auch Trauma sehr unterschiedlich in Abhängigkeit davon, was sie denn für Vorerfahrung haben. Wie Ihre Schutzfaktoren sind, wie stark sie in ihrer Persönlichkeit sind, was sie für Bewältigungserfahrung haben. Und natürlich spielt auch eine Rolle, wie intakt ist denn die Familie, wie viel Sicherheit gibt mir meine Familie? Und solche Unsicherheitsfaktoren, dass eine sehr belastete Mutter ausreist oder auf die Flucht geht, der Vater zurückbleibt und im Krieg ist. Das spielt alles eine Rolle, dann für die Bewältigung.
Moderator: Spielt das Alter beim Trauma auch eine Rolle? Also können welche, die in jüngeren Jahren zum Beispiel Kinder ein Trauma erlebt haben, das vielleicht besser verarbeiten? Oder wird es später vielleicht aus psychologischer Sicht eher schlimmer?
Ria Uhle: Das ist eine interessante Frage, da haben wir uns heute auch schon nochmal intensiver ausgetauscht. Es gab ja so früher immer diesen Glauben, na ja, wenn die Kinder ganz klein sind, dann kriegen die nicht so viel mit, das ist ja gut. Meine Kollegin hat sich sehr mit dem Thema beschäftigt. Ilka du vielleicht dazu?
Ilka Arnhold: Du hast ja schon gesagt, also die Aussage, das haben die noch nicht mitbekommen, weil sie zu klein waren. Man weiß heute, dass alte Menschen, die jetzt in Pflegeheimen sind oder älter werden, genau noch diese Reaktion oder diese Erfahrung im Körper haben: die Kälte, den Lärm. Und durch solche Situationen auch getriggert werden können. Also, dass das durchaus so ist: je kleiner, desto schlimmer auch. Aber es gibt noch keine Worte dafür, sie können das noch nicht ausdrücken, also das ist eine besondere Situation.
Moderator: Hier gibt es auch interessante Untersuchungen von der deutschen Nachkriegsgeneration, die in den letzten Jahren des Krieges oder danach, als es vorbei war mit dem Zweiten Weltkrieg, halt Kinder waren. Das sind vor allem jetzt die Menschen, die in den Pflegeheimen sind oder alt, auf jeden Fall und bei denen ziemlich ähnliche traumatische Erlebnisse jetzt auf einmal wieder zurückkommen. Nach all den Jahrzehnten.
Ilka Arnhold: Genau, und da man inzwischen viel mehr darüber weiß, kann man auch jetzt anders gegensteuern. Also Kinder bekommen Unterstützung, die es möglicherweise nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat. Und man weiß und nimmt das ernst, dass auch ganz, ganz kleine Kinder schon sehr viel Trauma im Körper haben können.
Ria Uhle: Also, Kinder verarbeiten Trauma ja auch in Abhängigkeit davon, wie weit sie entwickelt sind, mit ihrer Sprache, mit ihren kognitiven Fähigkeiten. Ein Grundschulkind zum Beispiel kann schon beschreiben, was es fühlt. Ein Kleinkind spielt da vielleicht die Situation und ein Baby schreit einfach nur oder zittert. Und Jugendliche haben noch die Situation, dass sie in einer Ablösung von den Erwachsenen sind und Trauma als sehr schambesetzt, auch erlebt werden. Jetzt Hilfe zu brauchen von Erwachsenen, ist für die also oft eine schwierige Situation und die Traumareaktionen sind manchmal gar nicht so leicht zu unterscheiden von dem, was Jugendliche sonst so drauf haben an pubertären, manchmal für uns komischen Verhaltensweisen.
Moderator: Seit 2015 konnten schon einige Schulen und Kitas Erfahrung mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen sammeln. Und wenn wir noch ein bisschen weiter zurück gucken auch in den 90er Jahren, damals, mit dem Jugoslawienkrieg. Inwieweit konnte auf dieses Wissen aufgebaut werden?
Ria Uhle: Ich glaube sehr stark. Also, wir hatten ja 2015 von der Bundeskanzlerin die Parole: "Wir schaffen das." Und viele Schulen haben sich dieser Problematik auch angenommen. Es gab viele Hürden, aber es gab auch viele Erfolge und die Strukturen, die damals aufgebaut wurden, auf die kann man heute zum Großteil auch zurückgreifen. Das heißt: solche Sachen wie „wir wissen, was wir brauchen für die Arbeit mit Geflüchteten“. Viele Lehrkräfte haben sich zum Beispiel auch qualifiziert, haben sich beschäftigt, „wie können wir Sprachbarrieren abbauen?“ Und es gibt einfach eine größere Sensibilität für die Komplexität von Flucht.
Moderator: Haben Sie Tipps für Erzieherinnen und Erzieher oder auch Lehrerinnen und Lehrer, wie sie einen Zugang zu traumatisierten Kindern finden? Oder das auch erst einmal herausfinden, ob es vielleicht ein Trauma gibt?
Ilka Arnhold: Also Erzieherinnen und Lehrer mit viel Berufserfahrung erkennen, wenn ein Kind sich anders verhält oder sich sein Verhalten und Erleben verändert. Das eine Kind zieht sich zurück, wird immer stiller, das andere Kind vielleicht immer lebhafter oder aggressiv. Und indem ich das Kind in den Blick nehme und ihm meine Aufmerksamkeit schenke und das beobachte und wahrnehme, habe ich ja einen ersten Zugang, mit der Haltung „Ich sehe dich und ich bin aufmerksam“. Und mit dieser Haltung von Interesse und Zuwendung werden Sie als Pädagoge auch weiter Schritt für Schritt Wege finden, was genau diesem konkreten Kind helfen könnte.
Und jedes Kind reagiert in diesen Belastungssituationen anders und genauso individuell sind dann natürlich auch die Schritte, die ihm da heraushelfen können. Und die Haltung „Ich will dich verstehen“, erfordert, dass ich natürlich auch konkret nachfrage, nicht nur erkunde und beobachte, sondern ganz konkret das Kind frage, „Was brauchst du?“, „Was kann ich tun für dich?“, „Wie kann ich dich unterstützen?“, „Was würde dir jetzt im Moment guttun?“ Und an diesen Fragen entlang kann ich dann natürlich auch meine Hilfsangebote ausrichten. Ich probiere aus, es ist ein Ausprobieren, es gibt kein Patentrezept, sondern es ist ein Ausprobieren. Was kann helfen? Und ich kann es notfalls korrigieren oder zurücknehmen und bleibe dadurch im Kontakt mit dem Kind – also habe diesen Zugang.
Ria Uhle: Vielleicht noch ein paar kleine Beispiele, was im Unterricht passieren kann. Ein Kind hat massive Konzentrationsprobleme. Und dann reduziert man halt den Lernstoff, wenn man das sieht. Es kann, mit dem Trauma zu tun haben, muss aber nicht. Ein Kind ist extrem unruhig. Dann sollte man die Lernsequenzen kürzen, das Kind soll sich bewegen. Ein anderes Kind, was extrem zurückgezogen ist, das kann man ein Stück aktivieren, ansprechen. Also es ist schon wichtig, genauer zu gucken und es ist so, Pädagoginnen und Pädagogen hätten immer so gern Patentrezepte, wir ja auch, aber in dem Fall ist es wirklich auch ein Stück weit ausprobieren und immer wieder neu entscheiden, was in der Situation jetzt passt. Und das ist auch anstrengend, durchaus.
Ilka Arnhold: Da ich ja auf Fragen hingewiesen habe, dass Fragen mir dabei weiterhelfen, vielleicht Fragen, die eher nicht so günstig sind in diesem Zusammenhang: Wie fühlst du dich und willst du erzählen? Wir kommen ja dann an anderer Stelle noch auf dieses Erzählen, also möglicherweise nicht Kinder mit solchen Fragen noch zusätzlich in belastende Situationen bringen, also dort etwas vorsichtiger sein. Eher ganz pragmatische Fragen: Was brauchst du?
Moderator: Hilft es auch, immer wieder darüber zu sprechen?
Ria Uhle: Da kann ich jetzt nur mit „Jein“ antworten, weil es kommt auch da-.
Moderator: Ach, typische Psychologinnen-Antwort.
Ria Uhle: Ja, richtig! Es kommt einfach auch darauf an, wie die Situation ist. Wir haben ja manchmal so diese Vorstellung: Viel reden hilft viel. Und da muss man sich selbst erstmal fragen: Ist das jetzt eigentlich mein Bedürfnis oder das Bedürfnis des Kindes, zu reden? Wenn das Kind das Bedürfnis hat, über seine traumatischen Erlebnisse zu reden, dann soll man Räume schaffen. Und gleichzeitig schauen, ob man das vielleicht auch begrenzen muss, wenn sich ein Kind immer wieder in diese traumatische Situation hier reinbegibt. Also, dann ist es wichtig, das Kind im Hier und Jetzt ein Stück zu verankern, durch Aktivitäten, es zurückzuholen.
Andere Kinder wollen darüber überhaupt nicht reden. Und da ist es ganz wichtig, das zu akzeptieren. Gerade bei älteren Kindern und Jugendlichen, die sich auch ein Stück abgrenzen von den Erwachsenen, ist es notwendig, dass man ihnen den Raum gibt, selbst zu entscheiden, wie viel, mit wem, in welchem Kontext sie über diese traumatische Situation reden wollen. Und wir müssen wissen, wir sind als Erwachsene ja auch mit Ohnmachtsgefühlen und ja, einfach auch Hilflosigkeit konfrontiert, mit unserer eigenen. Und dann ist oft dieses Gefühl ja, jetzt reden wir mal ganz viel und das hilft schon, aber leider in diesen Fällen ist das nicht immer eine gute Entscheidung.
Moderator: Wie so oft ist es halt individuell und man muss eben genau dann abchecken, was in dem einzelnen Fall eben wichtig ist, ob jetzt reden oder nicht reden. Wenn man dann spricht, braucht man dazu nicht eine fundierte Ausbildung? Zum Beispiel Sonderpädagogin oder Sonderpädagoge? Oder reicht es einfach, wenn man den reinen gesunden Menschenverstand hier ansetzt?
Ilka Arnhold: Tja, natürlich ist es gut, etwas über Traumata zu wissen und Handlungsstrategien parat zu haben und weiterzuentwickeln. Aber wir denken, als Lehrer und Erzieherin werden Sie in Situationen gestellt und müssen einfach handeln und etwas tun, auch wenn Sie möglicherweise die spezifischen Befähigungen in dem Moment noch nicht haben. Insofern ist dieser Teil Berufserfahrung und gesunder Menschenverstand schon ein wichtiger Teil des Ganzen. Und natürlich auch das Herz, also sowas, wo man sagt Herzensbildung, Empathie, das mich befähigt in Kontakt mit dem Kind zu bringen, also ich kann mich möglicherweise zum einen, die Ermutigung „Sie haben viele Kompetenzen, um solche Situationen zu bewältigen“ und gleichzeitig auch „Sie können diese Verantwortung oder diesen Teil nicht abgeben, weil sie sagen, ich habe eine Trauma-Ausbildung oder ich bin keine Psychologin“. Das kann ich aus Erfahrung sagen, dass ich da immer wieder Pädagogen auch ermutige und sage: „Gucke genau hin. Und möglicherweise im Austausch mit anderen Kolleginnen findet ihr ein Weg." Aber ihr könnt nicht sagen, „weil wir diese Befähigung oder diesen Schein oder diese Fortbildung nicht haben, können wir damit nicht umgehen“. Sie können es und sie können sich Schritt für Schritt Strategien entwickeln, in Zusammenarbeit mit anderen.
Moderator: Es gibt nicht nur die geflüchteten Kinder, sondern auch die dazugehörigen Eltern. Und auch hier braucht es Fingerspitzengefühl. Welche Tipps können Sie Pädagoginnen und Pädagogen hier geben?
Ria Uhle: Das Fingerspitzengefühl ist wichtig, aber auch der gesunde Menschenverstand sind hier wieder sehr wesentlich. Wenn wir uns die aktuelle Situation nochmal angucken, unter welchen Bedingungen die Familien jetzt hier leben, da spricht man auch von Postmigrations- Stress. Also, es sind viele Herausforderungen zu bewältigen. Wir wissen, dass überwiegend die Mütter und andere weibliche Bezugspersonen mit ihren Kindern gekommen sind, die oft selbst traumatische Erfahrungen haben, hoch belastet sind. Es gibt die Sprachbarrieren, es gibt Ängste in fremder Umgebung, unsichere Perspektiven.
Die Lebenssituation ist schwierig. Wo wohnen die Familien jetzt? Es gibt Heimweh. Es gibt Verlust sozialer Bindung, Diskriminierungserfahrung und eine ganze Menge Kränkung durch Statusverlust. Menschen, die also in der Ukraine gut gelebt haben, müssen sich jetzt vielleicht in der Flüchtlingsunterkunft zurechtfinden und so weiter. Also eine ganze Reihe von Dingen. Umgang mit Behörden zum Beispiel und all das muss in der Kommunikation mit den Eltern berücksichtigt werden. Das heißt, es ist wichtig, eine gute Kommunikation, einen guten Austausch sicherzustellen. Und da ist natürlich die Frage, wie können wir das sprachlich hinkriegen? Es sollten zum Beispiel nicht die Kinder Dolmetschaufgaben übernehmen. Man muss gucken, können die Eltern Englisch, einige sprechen Deutsch weniger. Aber dann kann man auch mal auf eine Übersetzungs-App zurückgreifen und es geht einfach darum, Vertrauen zu schaffen durch Verlässlichkeit, Akzeptanz.
Und die Eltern auch ein stückweit einzubinden im schulischen Kontext ist super, wenn Eltern bestimmte Kompetenzen haben, zum Beispiel Sport, Kunst, Kultur, ein IT-Fachmann und so weiter. Dann kann man die ja fragen, ob sie in der Schule vielleicht eine Aufgabe übernehmen wollen oder es gibt ein Elterncafé. Es gibt Möglichkeiten, Deutsch zu lernen an der Schule und vielleicht gibt es auch Patenschaften. Es sind alles so kleine, sehr basale Dinge, die aber schon viel bewirken können, damit Menschen sich hier willkommen und eben auch ein Stück weit sicher und angenommen fühlen.
Moderator: Ja, das kann ich mir gut vorstellen, wenn man einfach dabei ist und aktiv auch was mitmachen kann, dann fühlt man sich eben auch dazugehörig. Jetzt bei aller Nächstenliebe und Fürsorge sollte man sich am Ende selbst nicht vergessen, Stichwort, Selbstfürsorge, auch das ist ein wichtiger Punkt. Was meinen Sie ganz genau damit?
Ilka Arnhold: Ja, das was es ganz konkret als Wort sagt: "Ich sorge für mich selbst." Auch wenn jetzt in der Frage nicht speziell darauf abgestellt wird, möchte ich gleich als erstes mal sagen und darauf hinweisen, auch auf die Fürsorgerolle der Schulen, also der Einrichtungen, dass als ganz wichtige Basis, dass ein guter Rahmen geschaffen wird, in der gesundes Arbeiten möglich ist. Und speziell auf die Frage geht es ja darum, was jeder für sich ganz konkret tun kann und sollte. Wir haben da zwei wichtige Aspekte vorne ran gestellt, zum einen geht es darum, immer wieder Möglichkeiten zu schaffen, erst mal innezuhalten. Ich kann nichts für mich und für meine Selbstfürsorge tun, wenn ich nicht merke, wie es mir gerade geht. Also dieses Schaffen von Inseln, wo ich mal durchatme und sage, wie geht es mir eigentlich gerade und was brauche ich im Moment gerade? Das ist so der allererste Schritt, ohne Anhalten, ohne Pause mal zu machen, kann ich nicht merken, was ich brauche.
Und dazu braucht es manchmal, nach meiner Erfahrung, gerade in helfenden Berufen die Erlaubnis, auch wenn es rundum viel Elend gibt und es schlecht geht, habe ich trotzdem auch das Recht und es ist auch professionell, wenn ich sage „Moment mal, ich muss meinen Akku auch wieder aufladen“. Und das ist manchmal ein wichtiger Schritt und einer, der Helfenden sehr schwerfällt. Ich darf für mich sorgen. Und das ist ein wichtiger Appell von uns: Du darfst und du musst für dich sorgen! Damit du auch im nächsten Schritt wieder etwas geben kannst, damit du tatsächlich die Ruhe ausstrahlen kannst, die in diesen aufgeregten Situationen notwendig ist. Damit du Ruhe hereinbringen kannst, in schwierige Situationen musst du gut mit dir in Kontakt sein und gut für dich selber sorgen.
Und welche Möglichkeiten das dann sind, das ist im Einzelnen zu beschreiben. Das kann zum einen sein, dass ich herausfinde, was genau belastet mich besonders und kann ich daran irgendwie etwas ändern? Kann ich da was machen? Muss ich an irgendeiner Stelle mal Nein sagen? Diese Aufgabe kann ich nicht noch übernehmen oder diese Thematik oder dieses Gespräch ist mir jetzt zu schwierig, kann das jemand anders übernehmen? Und zum anderen geht es darum, auch Wege und Möglichkeiten zu finden, den Akku wieder aufzuladen. Und da hat jeder seine individuellen Möglichkeiten und es können Hinweise aufgenommen werden, was kann ich da noch ergänzen? Gibt es noch andere Ideen?
Und eine Idee, die ich mit einbringe, ist zum Beispiel es über Kunst und Natur und dadurch auch eine Wirksamkeit zu erfahren. Ich handele, ich mache ja, wenn ich Kunst mache, dann handele ich, dann tue ich etwas, dann bin ich wirksam und das ist eine besondere Art und Weise, auch mit Belastung umzugehen. Und natürlich beschäftige ich mich damit dann auch mit was Schönem, was ja auch guttut und geeignet ist, den Akku wiederaufzuladen. Also auch hier wieder – wie bei anderen Themen –, man muss seinen individuellen Weg finden. Weil, was dem einen Yoga ist, ist dem anderen vielleicht ein Waldspaziergang. Also man muss seinen eigenen Weg finden. Aber wie gesagt auf der Basis „ich darf das“. Und ich sollte das auch tun, damit ich handlungsfähig bleibe und gesund bleibe.
Moderator: Jetzt haben wir schon ganz viele Tipps von Ihnen bekommen. Wo kann man ganz konkret auch noch Hilfe einfordern?
Ria Uhle: Ich kann sehr empfehlen, sich an die Schulpsychologischen Beratungsstellen, Beratungsdienste in den Bundesländern zu wenden. Die Erfahrungen haben mit der Thematik aus psychologischer Sicht, die zum Teil auch Fortbildung anbieten und Materialien bereitstellen, Kooperationen mit Beratungseinrichtungen für Geflüchtete. Und wenn es wirklich um Trauma geht, kann man schauen, ob es Einrichtungen vor Ort gibt, Psychologen, Psychotherapeuten, Trauma-Ambulanzen. Und natürlich bietet das Internet eine ganze Menge an Broschüren, für Betroffene als auch für Helfer, unter anderem auch die Unfallkassen und da kann man mal googeln. Gibt es Broschüren zum Thema Trauma, was tun? Auf Ukrainisch, Russisch, Deutsch und in weiteren Sprachen.
Moderator: Ja, und das Internet ist ein gutes Stichwort, da gibt es auch viele Podcasts, zum Beispiel diesen hier, wo Sie viele Tipps jedes Mal immer noch mal wieder nachhören können und alle Tipps von Ria Uhle und Ilka Arnold finden Sie auch in den Shownotes dieser Podcast Folge. Vielen Dank an Sie beide.
Ria Uhle: Vielen Dank auch von uns.
Ilka Arnhold: Danke schön für die Möglichkeit.
Block 03: Verabschiedung
Moderator: Die BGW veranstaltet übrigens einen Kongress der Reihe BGW forum zum Thema „Sicher und gesund in der pädagogischen Arbeit“. Unter www.bgw-online.de/podcast gibt es auch alle bereits veröffentlichten Podcast-Folgen zum Nachhören und das empfehle ich Ihnen sehr. Bis zum nächsten Mal. Bleiben Sie gesund.
(Outro – Herzschlag. Für ein gesundes Berufsleben, der BGW Podcast)
Interviewgäste
Ria Uhle
Dipl.-Psych., Notfallpsychologin, Psychotherapeutin. Zentrum für Trauma- und Konfliktmanagement (ZTK). Koordinatorin psychische Gesundheit Schulpersonal (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie – SenBJF Berlin)
Ilka Arnhold
Dipl.-Psych., Supervisorin, Kunsttherapeutin, Region Leipzig (www.ilka-arnhold.de)
Elbkinder Hamburg
Weiterführende Links zum Thema
BGW Angebote zum Thema Ukraine
Zentrum für Trauma- und Konfliktmanagement
Broschüre: Geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine
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