Tatort Pflege – Wie Verbrechen im Krankenhaus verhindert werden können #122 BGW-Podcast "Herzschlag - Für ein gesundes Berufsleben"
Ein Pfleger erscheint wiederholt alkoholisiert zum Dienst, handelt eigenmächtig mit Medikamenten – zwei Patienten sterben. In dieser Folge spricht Ralf Podszus über einen realen Fall, der viele Fragen aufwirft. Im Mittelpunkt steht dabei nicht nur der Fall selbst, sondern vor allem die Frage: Wie lassen sich solche Taten künftig verhindern?
Im Gespräch mit dem emeritierten Professor für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. Karl H. Beine sowie dem pflegerischen Leiter Oktay Bahar wird deutlich: Prävention ist möglich – durch präsente Führung, funktionierende Kommunikation und ein Arbeitsumfeld, das auf Achtsamkeit und Verantwortung setzt. Sie sprechen darüber, welche Alarmsignale ernst genommen werden sollten, zeigen strukturelle Schwächen auf und machen deutlich, welche Rolle Führungskräfte und Teams im Pflegealltag spielen, wenn es darum geht, Sicherheit zu gewährleisten und Fehlverhalten frühzeitig zu erkennen.
Hier kommen Sie zum Transkript dieser Folge
Stimme aus dem Off:
Todesfall nach Hackerangriff auf Uniklinik Düsseldorf.
Stimme aus dem Off:
72-Jährige schaltet im Krankenhaus Sauerstoffgerät von Bettnachbarin aus.
Stimme aus dem Off:
Pfleger gesteht Mord an Patienten.
Stimme aus dem Off:
Urteil gefallen: Falscher Psychologe aus Chemnitz muss ins Gefängnis.
Moderator:
In den Medien bekommen Verbrechen in der Pflege oft große Aufmerksamkeit. Zum Glück sind sie nur Einzelfälle, es gibt sie jedoch, und genau deshalb sprechen wir in dieser Folge darüber. Ich bin Ralf Podszus und habe einen Fall mitgebracht, den ich euch gleich genauer vorstellen werde. Es geht dabei nicht nur um das Verbrechen, sondern vor allem um die Hintergründe und wie solche Fälle künftig verhindert werden können. Dazu spreche ich mit einem Psychotherapeuten und einer Stationsleitung, die Verantwortung in einem großen Team aus Pflegefachpersonal trägt.
Jingle:
Herzschlag! Für ein gesundes Berufsleben, der BGW-Podcast.
Stimme aus dem Off:
Hans wird müde. Er kann seine Augen kaum offen halten, dann wird er bewusstlos. Am nächsten Morgen wacht er auf, immer noch sichtlich erschöpft. Hans liegt auf der Wachstation im Klinikum Rechts der Isar in München. Auf dieser Station werden Patientinnen und Patienten nach einer Operation verlegt, bevor sie auf die normale Station zurückkehren können. Warum er hier liegt? Der 90-Jährige war gestürzt und musste operiert werden. Woher aber kam auf einmal diese extreme Müdigkeit? Ein neuer Tag, und auf einmal ist sie wieder da, die Müdigkeit. Dann wird es hektisch.
Stimme aus dem Off:
Achtung, aus dem Weg!
Stimme aus dem Off:
Vorsicht!
Stimme aus dem Off:
Schnell, schnell, schnell!
Stimme aus dem Off:
Das bekommt Hans allerdings gar nicht mehr mit. Sein Zustand hat sich extrem verschlechtert. Mit rasendem Puls wird der Rentner auf die Intensivstation gebracht. Er überlebt dank künstlicher Beatmung. Mario genießt die Rat- und Hilflosigkeit der Ärztinnen und Ärzte. Sie können sich einfach nicht erklären, warum sich der Zustand ihres Patienten auf einmal so verschlechtert hat.
Stimme aus dem Off:
Komisch, ich kann mir die Werte einfach nicht erklären.
Stimme aus dem Off:
Mario ist 24 Jahre alt und eigentlich Altenpfleger. Seinen Lebenslauf hat er ein bisschen aufgemöbelt – so wird aus einem Altenpfleger schnell mal ein Krankenpfleger. Eine Zeitarbeitsfirma aus Österreich hatte ihn an das Krankenhaus vermittelt. In Österreich habe er nicht mehr arbeiten dürfen, weil er dort wegen Diebstahls vorbestraft war. Mario war auf der Wachstation allein für vier Patienten zuständig. Mit denen wollte er aber am liebsten gar nichts zu tun haben, oft hatte er einen Kater. An einem freien Tag kam er laut eigener Angaben gut und gerne mal auf bis zu drei Flaschen Schnaps und 20 bis 25 Flaschen Bier. Da wollte er am nächsten Tag auf der Arbeit in Ruhe gelassen werden, am Handy spielen oder einfach nur schlafen.
Stimme aus dem Off:
Also, wenn ich gearbeitet habe, dann habe ich zum größten Teil eigentlich nichts gemacht.
Stimme aus dem Off:
Sagt er. Obwohl es zu seinen Aufgaben gehörte, hat er die Patienten nicht gewaschen oder mit ihnen gesprochen, wenn sie unruhig wurden. Werte, die er in der Nacht messen sollte, hat er, so sagt er, gefälscht. Erst am Morgen wurden die Patienten dann zur Visite aufgesetzt. In ihren Rollstühlen hat er sie häufig zur Wand gedreht.
Stimme aus dem Off:
Ja, dann sind die Patienten ruhiger.
Stimme aus dem Off:
Einer Frau, die nach einer Kopfoperation eine Kopfdrainage hatte, gab er laut Anklage 25.000 Einheiten des Blutverdünnungsmittels Heparin. Er habe nicht gewusst, dass 25.000 Einheiten so viel sind. Was Mario aber wusste: welche Beruhigungsmittel es braucht, um die Patientinnen und Patienten ruhigzustellen. So hat er es auch bei Hans gemacht. Das Mittel hat nicht gleich gewirkt, deshalb hat er noch einmal nachgelegt. Weil sich der Zustand von Hans daraufhin aber verschlechtert hatte, spritzte er ihm sechs Ampullen Adrenalin. Das hätte den 90-Jährigen fast umgebracht. Zwei andere Patienten hatten nicht so viel Glück. Sie haben mit ihrem Leben bezahlt. Mario sitzt mittlerweile im Gefängnis. Das Urteil: lebenslange Haft wegen zweifachen Mordes und sechsfachen Mordversuchs.
Moderator:
Diese Geschichte ist tatsächlich genauso passiert. Ich versuche jetzt mal, die Hintergründe und Ursachen zu beleuchten. Wie kann so etwas überhaupt unbemerkt passieren? Karl Beine kennt sich mit solchen Fällen aus. Der emeritierte Psychiatrieprofessor forscht seit vielen Jahren zu Tötungsdelikten in der Pflege und hat dazu auch schon mehrere Bücher geschrieben, zum Beispiel Tatort Krankenhaus. Hallo, Herr Beine.
Karl Beine:
Hallo, guten Tag, grüß Sie.
Moderator:
Was sind die Gründe dafür, dass solche Fälle in Kliniken, Pflegeheimen oder anderen Pflegeeinrichtungen passieren?
Karl Beine:
Na ja, das ist so, dass es eben vielfältige Gründe gibt und das Phänomen nicht so einfach zu erklären ist. Was grundsätzlich gilt: Es gibt innere Gründe, die in der Person des Täters zu suchen sind, und es gibt äußere Gründe, die in der Arbeitssituation zu finden sind – in der Arbeitsatmosphäre, im Betriebsklima und in der Art der Führung am Arbeitsplatz. Dass das alles miteinander zusammenhängt, dürfte auch unmittelbar einleuchtend sein. Günstig für die Arbeitsumgebung ist eine ebenso kompetente wie auch präsente, tatsächlich anwesende Führung. Eine qualitativ und quantitativ ausreichende Personalausstattung, ein offener Umgang mit Fehlern, die gemeinsam getragene Überzeugung vom Sinn der Arbeit, vom Wert der eigenen Arbeit. Und die Führung muss nicht nur präsent sein, sondern auch in der Lage sein, unangenehme Dinge auszusprechen, anzusprechen, ohne die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entwerten. Ungünstige Einflüsse sind das genaue Gegenteil, nämlich überlastete, gefrustete Mitarbeiter, entwertete, kritisierte Mitarbeiter, eine abwesende oder inkompetente Führung. Hinzu kommen häufig zerstrittene Teams und eine resignative Arbeitsatmosphäre, die sich hochschaukelt in der Gewissheit, dass die eigene Arbeit nichts wert ist, wenig wert ist und letztlich keinen Sinn hat.
Moderator:
Und welche Rolle spielen dabei die hohe Arbeitsbelastung oder auch der Fachkräftemangel in der Pflege?
Karl Beine:
Auch da sind die Einflussfaktoren vielfältig. In dem Fall, den Sie jetzt angesprochen haben, hat der Fachkräftemangel zum Beispiel dazu geführt, dass der spätere Täter Mario immer wieder eine Arbeit gefunden hat im Pflegebereich. Er hatte vorher pflegebedürftige Menschen bestohlen und war dafür auch rechtskräftig verurteilt worden. Seine Berufserlaubnis wurde vom zuständigen Regierungspräsidium überprüft und er wurde für fähig befunden, weiterzuarbeiten im Pflegeberuf. Und bevor er im Klinikum rechts der Isar eingestellt wurde, hatte er in den zurückliegenden Jahren 18 verschiedene Stellen, immer vermittelt über Zeitarbeitsfirmen, inne. Und bei seiner Einstellung in München hat sich niemand für seine Zeugnisse und auch nicht für das polizeiliche Führungszeugnis interessiert. Dieser Mann war von Haus aus Altenpfleger und wurde dann auf einer neurochirurgischen Überwachungsstation eingesetzt.
Und die Arbeitsbelastung vor Ort kommt noch einmal erschwerend hinzu, weil jeder ja unmittelbar und direkt weiß, dass dann, wenn der Stress größer und größer wird, die Fehleranfälligkeit steigt und man auf jeden Fall bemüht ist, zusätzliche Belastungen von sich abzuwenden. Und da muss man sich eben nicht wundern, dass der einzelne Mitarbeiter, die einzelne Mitarbeiterin, nicht rechts und links guckt, sondern hingeht und versucht, ihre Schicht und ihre unmittelbaren und direkten persönlichen Aufgaben so fehlerfrei wie irgend möglich zu erledigen. Und wenn Sie Pflegekräfte fragen, mit ihnen reden, dann gibt es kaum jemanden, der mit einem Gefühl nach Hause geht, dass er heute seine Arbeit befriedigend zum Wohle der Patienten gemacht hat, sondern sie sind gezwungen, aufgrund der Arbeitssituation hinter ihren eigenen Ansprüchen zurückzubleiben.
Moderator:
Aber es ist doch total krass, also so viele Einschläge im Vorfeld schon und am Ende alles weggewischt. Ist das vielleicht auch der hohen Arbeitsbelastung zu verdanken, dass man niemals so ein polizeiliches Führungszeugnis angeguckt hat oder auch diese ganzen Stationen, bei denen schon der Mario am Start war? Weil das sieht ja auch mit den vielfachen Wechseln danach aus, irgendwas ist da ja wohl im Busch.
Karl Beine:
Natürlich sieht das danach aus, dass da irgendwas im Busch ist. Aber genau das wird nicht bekannt, weil nicht genau hingeguckt wird. Und nicht genau hingeguckt wird, weil man nehmen muss, wen man kriegen kann. Der Fachkräftemangel in den Kliniken, selbst in dieser Universitätsklinik am Standort München – das ist nicht irgendein Provinznetz, sondern das ist eine Metropole – ist offensichtlich so groß, dass da die Einstellungsgespräche zum Teil über Skype durchgeführt werden und niemand mehr exakt prüft, wer das denn eigentlich ist. Hauptsache, die Stelle ist besetzt.
Moderator:
Ja, krass, auf jeden Fall. Was geht jetzt in den Köpfen von Täterinnen und Tätern vor? Schauen wir uns jetzt mal unseren Fall an: ein junger Mann, der seine Ruhe haben möchte und deshalb mehrere Menschen in Lebensgefahr bringt und zwei von ihnen sogar umbringt. Dem ist alles egal – für die eigene Ruhe.
Karl Beine:
Na ja, vordergründig erscheint das so, dass er seine Ruhe haben will. Man muss natürlich weiter fragen: Warum will dieser Mann seine Ruhe haben? Er hat ganz offensichtlich von sich selber das Gefühl, den Aufgaben, die er sich stellt, die ihm gestellt werden, nicht gewachsen zu sein. Und er hat selber vor Gericht gesagt, dass er seinen Rausch ausschlafen wollte und dass er reichlich Alkohol und auch sonstige Drogen konsumiert hat. Und wenn jemand reichlich Alkohol trinkt und reichlich Drogen konsumiert, dann hat das in aller Regel Ursachen – persönliche Ursachen, die dazu beitragen. Und man wird davon ausgehen, dass dieser Mann, dem es nur mit Mühe gelungen ist, überhaupt eine Abschlussprüfung im Fach Altenpflege zu absolvieren und zu bestehen, und der dazu beigetragen hat, dass er von seinem Ausbildungsbetrieb nicht übernommen wurde wegen zu hoher Fehlzeiten, dass der von Haus aus nicht ein gesundes und selbstbewusstes Ego mitbringt. Und ich gehe davon aus, dass er nicht in der Lage ist, die Leidenszustände, mit denen er aus beruflichen Gründen tatsächlich konfrontiert ist, zu ertragen und zu begleiten. Sondern er will seine Ruhe haben, und damit verbunden ist, dass er das Elend und das Leiden, die Schmerzen und die Hilfsbedürftigkeit der Menschen ausblendet. Und so vermeidet er das schwer zu ertragende Ohnmachtsgefühl, das jeden professionellen Gesundheitsarbeiter befallen muss, wenn er sieht, dass mit pflegerischen oder medizinischen Mitteln Leidenszustände allenfalls zu lindern sind, nicht aber grundsätzlich oder kausal zu therapieren sind. Und es gibt nicht wenige, die genau dieses Defizit – in Anführungszeichen – als ein persönliches Versagen empfinden und die persönliche Ohnmacht nicht ertragen. Das, was für Mario gilt, gilt für viele andere auch, nämlich dass die Selbstunsicherheit extrem ausgeprägt ist, weit überdurchschnittlich groß. Und weil das so ist, muss es die Möglichkeit für den Betroffenen geben, diese Ohnmacht, diese Kränkung abzuwehren, und das tun sie dann auf unterschiedliche Art und Weise. Mario hat das getan, indem er den Leuten wahllos Medikamente gespritzt hat, damit er für den Augenblick die Herrschaft über die Situation gewonnen hat, seine Situation erträglicher gestaltet hat. Weil selbstverständlich hat er sich nicht aufraffen können, sich zu öffnen, Hilfe zu suchen. Und selbstverständlich ist es nicht passiert, dass ihm am Arbeitsplatz jemand gesagt hat: „Ist was mit dir, können wir dir in irgendeiner Weise Unterstützung angedeihen lassen?“ Es ist aufgefallen, dass er alkoholisiert zum Dienst kam. Er ist sogar einmal nach Hause geschickt worden, weil er unter Alkoholeinfluss stand, und trotzdem hat niemand das offene Gespräch gesucht. Mit anderen Worten: Sie sehen hier typischerweise, dass eine persönliche Disposition da ist und eine Arbeitsumgebung, die nicht genau hinschaut, die nicht offen mit Fehlern umgeht, sondern die die Dinge stressbedingt, fachkräftemangelbedingt so laufen lässt, wie sie laufen. Und das führt dann auf Dauer eben zu einer Verrohung, geradezu zu einem eklatanten Empathieverlust. Die Menschen, sowie Mario, verlieren das Gefühl dafür, dass sie es bei ihren Patientinnen und Patienten mit Menschen zu tun haben und nicht mit Objekten. Dass sie es zu tun haben mit Schutzbefohlenen, Menschen – und nicht mit irgendwelchen Präparaten oder beatmeten Leuten. Das geht in Köpfen von Täterinnen und Tätern vor. Und das, was in den Köpfen und Herzen vorgeht, ist das Produkt einer mitunter jahrelangen Entwicklung, die so gelaufen ist.
Moderator:
Laut Anklage hat Mario die Ratlosigkeit der Ärztinnen und Ärzte genossen. Die konnten sich den veränderten Zustand ihrer Patientinnen und Patienten überhaupt nicht erklären. Geht es am Ende also oft auch einfach um das Machtgefühl? Sie haben ja eben schon beschrieben – ich fasse es mal mit meinen Worten, jetzt mal ganz verknappt zusammen: eigentlich ein Loser, der ein ganz verringertes Selbstgefühl hat, aber jetzt merkt, er steht über den Dingen, über allen Ärztinnen und Ärzten.
Karl Beine:
Es geht selbstverständlich um die Macht. Und dieses Machtgefühl, das er sich verschafft, ist motiviert durch die für ihn unerträgliche Ohnmacht. Er kann auf der einen Seite mit menschenverträglichen Mitteln die Leidenszustände nicht lindern, nicht beheben. Er ist verroht. Er ist nicht motiviert, sich den Menschen wirklich zuzuwenden, sondern er hat vor Gericht erklärt, dass er zum Teil die Menschen mit den Betten zur Wand gestellt hat, weil sie angeblich dann ruhiger sind. Und er hat auf diese Art und Weise das Ohnmachtsgefühl überwunden, indem er Medikamente gegeben hat, von denen niemand wusste, dass er sie gab. Und er hat dann die Ratlosigkeit der Ärzte genossen, indem er sich selber gesonnt hat im Lichte der Zustände, die er verursacht hat und mit denen die höher eingestuften und hierarchisch übergeordneten Berufsgruppen nicht umzugehen wussten. Das heißt also: Das Machtstreben, das Machtgefühl, die Dominanz, die er da erlebt hat, ist am Ende motiviert, im Kern, durch sein kontinuierliches Ohnmachtserleben – in persönlicher Hinsicht, aber auch in professioneller Hinsicht.
Moderator:
Gibt es Anzeichen, bei denen man jetzt stutzig werden sollte? Zum Beispiel bestimmte Verhaltensweisen oder Charakterzüge? Wie machen sich zum Beispiel Pflegekräfte verdächtig? Sie haben ja bei Mario erzählt: alkoholisiert zur Schicht gekommen, nicht interessiert und so weiter. Was kann man da im besten Falle noch beobachten?
Karl Beine:
Also grundsätzlich ist es erforderlich, dass bewusst wird, dass es solche entsetzlichen Taten in Kliniken gegeben hat. Es ist von überragender Bedeutung, dass dann, wenn Verhaltensveränderungen auffallen, es Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzte gibt, die unmittelbar und direkt das Gespräch suchen. Nicht das anklagende Gespräch, sondern das um Verständnis bemühte Gespräch. Das Gespräch, das dem gefährdeten Menschen signalisiert: „Wir haben dich gesehen, wir sind aufmerksam geworden. Wir haben gesehen, dass du dich verändert hast.“ Weil wir wissen, dass die Täterinnen und Täter häufig sich zurückziehen, dass sie verschlossener werden, dass sie eine auffällig hohe und zynische Sprache benutzen – Hinweise darauf, dass sie innerlich erstarrt sind und in ihrem Beruf nicht die Sinnerfüllung finden, die man ihnen eigentlich wünschen sollte. An der Stelle ist es natürlich unerlässlich, darauf hinzuweisen, dass solche Beobachtungen bei Zeitarbeitsverhältnissen noch mal schwieriger werden, als sie ohnehin schon sind. Der Beschäftigungszeitraum am Klinikum rechts der Isar in München betrug ja nur wenige Monate, und von daher ist es nicht ein jahrelanges kollegiales Verhältnis, das an der Stelle geherrscht hat, sondern ein kurzes.
Zu beobachten ist eine ausgeprägte Selbstunsicherheit, das Bedürfnis, gelobt und anerkannt zu werden, bewundert zu werden. Es geht um Geltungsdrang und Dominanzstreben. Deutlich sind Empathiedefizite, zynisches bis brutales Reden darüber, wie die Leidenszustände von Patienten sind, respektloses, abwertendes Gerede über Sterbeprozesse und insgesamt ein zynisch verrohter Sprachgebrauch.
Und das, was trivial ist im Nachhinein, ist im Vorhinein schlecht zu beurteilen: nämlich die vermehrten Todesfälle in Anwesenheit eines einzelnen Kollegen. Und das, was fast immer beobachtet worden ist und im Nachhinein dann auch bekannt geworden ist, ist die eigenmächtige Verordnung von unverordneten Medikamenten. Und es gilt aber zu betonen, dass das, was im Lichte der Strafprozesse, die geführt worden sind, dann sichere Erkenntnisse geworden sind, dass das zunächst mal unglaubliche Beobachtungen sind, die der einzelne Kollege, die einzelne Kollegin da macht. Weil es selbstverständlich so ist, dass niemand von uns auf die Idee kommt, dass eine Kollegin oder ein Kollege plötzlich oder weniger plötzlich dazu übergeht, Menschen zu schädigen oder gar zu töten.
Moderator:
Genau, und aufgeklärt werden solche Verbrechen häufig dann von aufmerksamen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. So auch in unserem Fall: Im Klinikum rechts der Isar ist ein Assistenzarzt stutzig geworden, hat die Dienstbindung so ein bisschen mit den Vorfällen verglichen und ist dann auf Mario gekommen. Warum fällt ein Mord im Krankenhaus oder auch in anderen Pflegeeinrichtungen nicht immer sofort auf?
Karl Beine:
Ja, das ist in der Tat ein Phänomen, das man vielerorts beobachtet hat. Und man muss sagen, dass im Klinikum rechts der Isar ein besonders aufmerksamer Arzt stutzig geworden ist, Verdacht geschöpft hat. Und diese Verdachtschöpfung ist insofern bemerkenswert, weil das Sterben und der Tod – im Gegensatz zu allen anderen Tatorten – zunächst mal im Krankenhaus nichts Besonderes sind. Ein Leichnam erregt vielerorts viel Aufmerksamkeit – im Krankenhaus oder in einer Pflegeeinrichtung eben nicht. Von daher ist es so, dass ich nichts Besonderes dabei empfinde, wenn jemand verstirbt – jedenfalls zunächst mal nicht. Und dann kommt hinzu, dass das Vertrauen, und zwar das kollegiale Vertrauen in meinen Mitarbeiter, in meinen Kollegen, und das Vertrauen von Patienten in die pflegerischen und medizinisch-ärztlichen Berufsgruppen groß ist.
Und das, was ich als Patient am allerwenigsten erwarte, ist, dass an dem sichersten Ort in diesem Lande, nämlich im Krankenhaus oder in der Pflegeeinrichtung, da ein Mensch mich vorsätzlich schädigen will. Also, ich bin vollkommen arglos als Patient oder als Pflegling, und ich bin voll Vertrauen, dass mir geholfen wird. Und wenn das Gegenteil passiert, dann ist das erst mal unvorstellbar. Hinzu kommt, dass Pflegerinnen, Pfleger und Ärztinnen, Ärzte eine Berufsgruppe sind, von der man Täterschaft am allerwenigsten erwarten würde. Und auch das ist ein Teil der Aufdeckungsbarriere für die Entdeckung solcher Taten. Hinzu kommt, dass die später als Tötungsmittel identifizierten Substanzen in aller Regel Medikamente sind, die überall verfügbar sind im Krankenhaus.
Hinzu kommt, dass die Tatausführungen – wie wir später gelernt haben – von außen und oberflächlich betrachtet aussehen wie vollkommen normale, alltägliche Verrichtungen. Wer denkt sich schon was dabei, wenn jemand eine Spritze gibt im Krankenhaus?
Und insofern trägt alles das dazu bei, dass die Taten spät oder noch später entdeckt werden. Und das, was in diesem Fall in München nicht geschehen ist, das ist andernorts geschehen: nämlich, dass Vorgesetzte und auch Kolleginnen und Kollegen die Vorgänge vertuscht haben, verschwiegen haben und nicht den notwendigen Schritt gegangen sind, den dieser Arzt, den das Klinikum insgesamt zeitnah gegangen ist – nämlich: Sie haben Anzeige erstattet in dem Augenblick, wo sie einen Verdacht geschöpft hatten.
Moderator:
Da kommen wir dann zurück zur Rolle der Führung. Wie spielt die Führungs- und Unternehmenskultur dabei eine Rolle, psychische Belastung oder potenziell gefährliche Verhaltensmuster frühzeitig zu erkennen?
Karl Beine:
Die Rolle der Führung besteht darin, in den Mitarbeiterbesprechungen und auf den Stationen anwesend zu sein, genau zu beobachten und gegebenenfalls hinzugehen, um Mitarbeitergespräche zu führen. Dass auf jeden Fall eines nicht passiert: nämlich dass schleichende Verrohungen, auffällige Sprachgebräuche ignoriert werden und damit in der Gesamtgruppe das Gefühl entsteht: Für unsere Arbeit hier interessiert sich die Führung nicht. Das muss vermieden werden. Und Führung muss klar haben, dass solche Taten im eigenen Haus passieren können. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr groß, aber die Möglichkeit ist auch nicht zu 100 Prozent ausgeschlossen.
Moderator:
Hier wieder auch mal das Stichwort Wertschätzung. Ganz wichtig. Und wahrscheinlich auch eine offene Kommunikation und Feedbackkultur innerhalb der Belegschaft kann wahrscheinlich helfen, potenziell gefährliches Verhalten zu erkennen und zu verhindern, oder?
Karl Beine:
Auf jeden Fall. Es geht immer darum, dass eine offene Kommunikationsstruktur gepflegt wird und dass die Kritik am Kollegen nicht gleichbedeutend ist mit dessen Entwertung oder fehlender Wertschätzung. Weil wenn ein kollegiales Team gut funktioniert, dann muss es möglich sein, dass auch solche kritischen Randbemerkungen ausgetauscht werden — und wir anschließend aufrecht zusammen unsere Arbeit tun.
Moderator:
Welche Art der psychologischen Betreuung oder Supervision kann dabei helfen, das Teamgefühl zu fördern und auch kritische Situationen zu entschärfen?
Karl Beine:
Also meistens, wenn kritische Situationen wirklich eingetreten sind, wird es mit Supervision schwierig. Es ist überhaupt eine Erwartungshaltung, die mit Supervision verbunden wird, die vielerorts überzogen ist. Denn: Wer ist schon „super“ und wer hat schon eine „Vision“? Und von daher ist die Notwendigkeit groß, dass es eine qualitativ und quantitativ ausreichende Personalausstattung gibt. Und dass klar und offen kommuniziert wird, was in der entsprechenden Einheit geht und was nicht geht. Dazu gehört eben auch, dass die Grenzen benannt werden und klar wird, dass man die Arbeit so, wie sie jetzt ist, nicht mehr leisten kann — nicht leisten kann und nicht bereit ist, permanent nach Hause zu gehen mit dem Gefühl, die Arbeit schlecht machen zu müssen, alleine wegen der Defizite in der Arbeitsumgebung.
Moderator:
Wie wichtig ist die Förderung von Resilienz und welche Maßnahmen können dabei unterstützen?
Karl Beine:
Also Resilienz — ebenfalls ein Zauberwort — das nicht darüber hinwegtäuschen kann und darf, dass es immer geht um Wertschätzung, die sich auch aus dem Gehaltsstreifen ausdrückt und nicht endet beim Beifall von den Balkonen in Zeiten der Pandemie und anschließend abebbt. Sondern es geht darum, dass die medizinischen und pflegerischen Berufsgruppen hingehen und selbstbewusst ihre Interessen vertreten. Sich vergewissern, dass sie mit dem Frust, den sie haben, nicht alleine sind, sondern dass sie sich unterhaken und gemeinsam bekämpfen — die fehlende Wertschätzung des Landes für diese Berufsgruppen. Letztlich behaupte ich: Das Land hat das Gesundheitswesen, das es verdient.
Moderator:
Das heißt, Sie müssen noch viele Ihrer Hausaufgaben machen.
Karl Beine:
Das heißt, dass die pflegerischen und medizinischen Berufsgruppen in der Tat beginnen müssen, den Kampf gegen die strukturelle Geringschätzung aufzunehmen, fortzuführen und beherzt dafür zu kämpfen, dass die Arbeitsbedingungen lebbar werden — für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und auch für die Patientinnen.
Moderator:
Also wichtiger Punkt, dass es nicht noch mehr Fälle wie Mario gibt. Sollten bestimmte psychologische Risikofaktoren bei der Personalauswahl auch stärker berücksichtigt werden? Also jetzt zum Beispiel emotionale Labilität, mangelnde Empathie — oder einfach auch mal ins Führungszeugnis schauen?
Karl Beine:
Also die genaue Analyse der Arbeitszeugnisse und der Führungszeugnisse hilft in jedem Fall. Es ist grob fahrlässig, das nicht zu tun. Im Zweifel ist es so, dass vielleicht auch informelle Erkundigungen hilfreich sein können, die offiziell verpönt sind. Und es gilt darauf zu achten, dass ich bei der Personalauswahl aufmerksam werde, wenn Menschen sich bewerben, von denen ich den Eindruck habe, dass sie mit dieser Berufswahl auch verbinden eine Stabilisierung des eigenen Selbstwertes. Denn es gibt nicht wenige, die den Sonntagsreden von Funktionären und Politikern Glauben schenken — die in den Sonntagsreden die pflegerischen Berufe loben, über den grünen Klee. Und es gibt nicht wenige junge Menschen, die sich dann in der Illusion wiegen, sie könnten etwas vom Glanz dieser Sonntagsreden abbekommen. Im Alltag ist das Gegenteil eigentlich der Fall. Und da gilt es dann besonders gut hinzuschauen und diese Leute entsprechend zu fördern und auch zu begleiten.
Moderator:
Sie waren Prozessbeobachter beim Fall Mario und das war nicht Ihr erster Fall. Waren Sie bei den Enthüllungen dieses Falles sehr erschüttert?
Karl Beine:
Im Vergleich zu anderen Fällen war ich erstaunt über das Ausmaß an Verrohung, das Mario an den Tag gelegt hat, gezeigt hat. Ich war angenehm berührt von der Konsequenz, mit der das Klinikum gehandelt hatte. Ich war erstaunt bis erschüttert von der Fahrlässigkeit, mit der die Einstellungsvoraussetzungen geprüft worden waren. Und ich war am Ende relativ optimistisch, dass in diesem Fall erstmalig ein Klinikum im Nachhinein Hinterbliebenen eine Summe gezahlt hat für die Fehlbehandlung im Krankenhaus und für die strukturellen Defizite.
Moderator:
Weitere interessante Prozessbeobachtungen von Professor Beine gibt es auf seiner Website. Klickt mal rein auf www.khbeine.com. Ja, vielen Dank, Herr Beine, dass Sie Ihr Wissen über Verbrechen in der Pflege mit uns geteilt haben. Das sind jetzt gute Tipps zum Thema Prävention — ein ganz wichtiger Faktor, wie wir gelernt haben. Und dazu kommt noch das Thema Wertschätzung und natürlich immer Kommunikation.
Karl Beine:
Bitteschön.
Moderator:
Jetzt haben wir uns das Thema aus der wissenschaftlichen Sicht genauer angeschaut. Jetzt will ich noch mit einer Pflegefachperson sprechen. Oktay Bahar arbeitet als pflegerische Leitung im Klinikum Leverkusen. Er ist verantwortlich für rund 60 Pflegende — ja, und täglich bis zu 160 bis 190 Patientinnen und Patienten. Hallo Oktay.
Oktay Bahar:
Hallo Ralf, grüß dich.
Moderator:
Was verstehst du unter einer gesunden Unternehmens- oder auch Präventionskultur?
Oktay Bahar:
Was verstehe ich darunter? Für mich ist es wichtig, dass der Arbeitgeber — oder ich als pflegerische Leitung — für mein Team oder für die einzelnen Personen bei Problemen immer ein offenes Ohr habe. Was gehört dazu als pflegerische Leitung? Dass man regelmäßig Mitarbeitergespräche führt, dass man bei Sorgen und Nöten — oder man kann das ja oft, wir sind ja, sage ich mal, selber Pflegekräfte — Krankenbeobachtung machen wir ja nicht nur bei Patienten, das machen wir auch mit den Menschen in unserer Umgebung. Dass wir sehen quasi: „Ah, okay, Moment mal, da geht es jemandem aktuell nicht gut.“ Und das kann auch unser eigener Mitarbeiter sein. Er ist traurig, er sieht traurig aus, er sieht bedrückt aus, er hat eine nicht so gute Körperhaltung, vielleicht hat er Schmerzen heute? Dass man auf ihn aktiv zugeht. Natürlich hat der Mitarbeiter das Recht zu sagen: „Ey, ich möchte nicht darüber reden.“ Aber man sollte das, finde ich, anbieten. Wichtig ist, dass man das dann immer anbietet, dass man in einem geschlossenen Raum ist — nicht zwischen Tür und Angel. Dass man sich die Zeit nimmt und auch die Telefone in dem Moment ausmacht.
Was macht der Arbeitgeber, was auch mein Arbeitgeber momentan anbietet? Wir arbeiten mit einer externen Firma zusammen, die einen psychologischen Dienst anbietet, wo man anonym hingehen kann. Es werden auch keine Mitarbeiterdaten weitergegeben. Wir bilden aktuell PSU-Teams aus — das bedeutet psychosoziale Unterstützung bei Gewaltvorfällen oder jeglichen anderen Vorfällen. Und natürlich gibt es dann auch, weil wir kommunaler Träger sind, eine Antidiskriminierungsstelle bei der Stadt, wo man sich als Klinikmitarbeiter hinwenden kann.
Moderator:
Das ist total interessant, vor allem der Punkt: Man schaut auf die eigenen Mitarbeitenden, weil natürlich ist es wichtig, wie die so drauf sind, wie sie fühlen, wie sie empfinden — und das muss man aber auch erst mal hinkriegen. Also den Blick muss man erst mal haben. Ich kann mir auch vorstellen, bei so einem Arbeitstag, der oft stressig ist — du hast so um die 190 Patienten ja auch jeden Tag und Patientinnen — dass man dann einfach so in so einem Modus ist, dass man die anderen gar nicht so richtig mitbekommt. Also das muss man wahrscheinlich auch trainieren, den Blick für die eigenen Kolleginnen zu haben.
Oktay Bahar:
Definitiv. Am Anfang meiner pflegerischen Leitungskarriere ist mir das so schwer gefallen, weil man auch selber in diesem Tunnel war. Man möchte die Patienten abarbeiten, und dann hat man häufig noch die ganzen anderen Menschen drumherum vergessen, die den Laden am Laufen halten. Und das sind halt meine Kollegen — sei es von der Reinigungskraft, vom Patientenbegleitdienst, von der Pflege, von den Ärzten — und das sieht man dann häufig: Alle laufen hin und her, das sieht dann aus wie ein organisiertes Chaos, sage ich mal. Und da merkt man dann hin und wieder: Ah, okay, die eine Kollegin — irgendwie sieht die nicht gut aus, einen roten Kopf, ist stark am Schwitzen.
Moderator:
Hatte sie nicht mal zwei Arme? Na ja, wird schon passen.
Oktay Bahar:
Genau das. All diese Sachen, und sie schleift über den Boden. Was ist los?
Moderator:
Also man muss das auf jeden Fall schon viel früher erkennen, das ist ganz wichtig. Und welche Konzepte oder Maßnahmen gibt es denn für Kliniken und auch Pflegeeinrichtungen, wie sieht das konkret bei euch aus?
Oktay Bahar:
Was wir bei uns konkret in der Notaufnahme machen bei sowas: Wir machen dann regelmäßige Team-Time-Outs. Das bedeutet, auch in der Schicht treffen wir uns alle an unserem Stützpunkt wieder — das ist dann quasi unsere Kanzel — und dann reden wir noch mal, evaluieren wir alles. Wir reden über die Patienten, wir reden aktuell, wie die Situation bei uns ist. Sind wir in einem kritischen Zustand? Können wir die Patienten noch alle versorgen? Müssen wir uns gegebenenfalls bei IG NRW — das ist so ein Programm vom Land NRW — abmelden, damit die Rettungswagen uns aktuell nicht anfragen können und wir nur in unser Einzugsgebiet schauen? Und das besprechen wir dann wirklich, versuchen im Team zu sprechen und versuchen, da für eine Entlastung zu sorgen.
Moderator:
Das Thema Vertrauen spielt bei eurer Arbeit natürlich auch immer eine sehr große Rolle. Das Team muss sich blind verstehen, wissen, wie die anderen denken. Wie können jetzt Kliniken oder auch Pflegeeinrichtungen das fördern, wie macht ihr das?
Oktay Bahar:
Das kommt immer auf die Person an: Ist das ein neuer Kollege direkt nach dem Examen, oder ist das ein erfahrener Kollege? Wichtig ist — A und O — die Einarbeitung der ersten Monate, wenn der neue Kollege dazukommt, und Teambuilding-Maßnahmen einfach einführen. Das klingt ja zwar ein bisschen komisch: regelmäßige interne Fortbildungen durchführen. Dazu gehören aber auch regelmäßige Feiern, dass man sich auch mal privat trifft. Man muss keine besten Freunde werden, aber man sollte mal zusammen ein Bierchen trinken, draußen grillen zusammen. Und diese Sachen führen wir dann bei uns in der Notaufnahme durch, damit wir uns auch von allen Facetten kennenlernen — in dem Sinne. Und wissen, wie derjenige tickt.
Moderator:
Wie sieht es bei euch mit der Feedbackkultur aus? Also habt ihr zum Beispiel auch so Vertrauenspersonen, an die man sich wenden kann, wenn es mal ein Anliegen gibt — auch wenn man vielleicht Probleme mit dem einen oder anderen hat?
Oktay Bahar:
Also direkt jetzt im Team gibt es tatsächlich keine Vertrauensperson. Aber wir sind jetzt aktuell drei Leitungen und die Kollegen kommen immer auf unterschiedliche Weise. Manche Kollegen kommen eher zu mir, manche Kollegen gehen zu meinen Stellvertretungen hin — aber das ist auch vollkommen in Ordnung. Wenn es zum Beispiel um Themen handelt, die weibliche Kollegen betreffen, kann ich halt nicht so viel mitreden, dann ist es gut, wenn meine Stellvertretung dahin geht. Oder ich bin dann eher prädestiniert dafür, um Probleme zu lösen oder um bei persönlichen Belangen zu helfen. Also das verteilen wir dann schon. Und wir haben natürlich bei uns im Team — das hat jedes Team, glaube ich — Alphatiere. Das sind quasi die inoffiziellen Sprecher im Team. Die versuchen dann auch immer, auf uns zuzukommen: „Ey, pass mal auf, die Kollegin war bei mir, können wir darüber reden? Oder meinst du, wir können ihr irgendwie helfen?“
Moderator:
Jetzt kommen wir auf unseren Fall, Pfleger Mario, zurück. Der ist ja immer wieder verkatert zur Arbeit gekommen. Das ist jetzt natürlich ein ziemlich extremer Fall — vor allem, was der auch an Alkohol getrunken hat. Wie sieht das denn bei euch aus — wie viele gelbe Karten gibt es maximal für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wenn sie grobe Fehler machen?
Oktay Bahar:
Gelbe Karten finde ich immer schwierig zu sagen. Ich sag immer: Ich versuch die Leute zu ermahnen. Natürlich versuche ich jetzt nicht, das rosarote vom Pferd zu erzählen, aber ich sag immer so: Beim dritten Mal ist Schluss. Also es gibt eine Gelbe, noch eine Gelbe, dann rot und raus, ne? Und das versuchen wir dann offen anzusprechen — egal, ob das die Körperhygiene ist, also in dem Sinne Nagellack, Armbanduhren — das gehört halt nicht im Dienst dazu. Wir versuchen den Leuten immer zu sagen: „Ey, bitte achtet da drauf.“ Das sind Richtlinien, an die sich jeder halten muss. Und so ein Gespräch sprechen die Leute direkt an.
Moderator:
Im Zweifel sag ich ja immer: lieber ein bisschen Nagellack als drei Promille.
Oktay Bahar:
Definitiv, definitiv.
Moderator:
Und jetzt der Pfleger Mario von unserem Fall: Vielleicht hätte man mit einer guten Präventionskultur das vorher sehen können, wie der drauf ist. Also vielleicht kann man natürlich nicht seine bösen, üblen und auch unglaublichen Absichten für sich so klar machen und erkennen. Aber verwahrlost und alkoholisiert — das ist ja öfter gewesen. Hätte man da vielleicht schon mal ein Prinzip machen müssen — nicht zehn gelbe Karten verteilen — oder kann sowas gar nicht auffallen?
Oktay Bahar:
Ich glaube, es fällt schon auf — allgemein. Aber ich weiß nicht, wie du das siehst. Das ist jetzt keine Entschuldigung dafür, aber natürlich will man versuchen, immer jede Pflegekraft zu behalten. Und das ist jetzt nicht bei mir so, aber ich weiß, dass es bei vielen anderen Kollegen so ist, dass sie dann versuchen, das zu übersehen. „Ach, Hauptsache, dieser Pfleger bleibt noch bei mir.“ Natürlich, wenn am Ende dann was passiert ist — wie bei dem Fall Pfleger Mario — dann schreien alle groß auf. Aber es gab ja vorher Alarmzeichen. Ich erinnere mich an einen Fall, der liegt jetzt schon zehn Jahre zurück oder länger. Wir hatten mal eine Kollegin gehabt, die kam morgens zum Frühdienst mit roten Lippen — kein Lippenstift, es war Rotwein gewesen. Und da haben wir sie wirklich direkt angesprochen. Damals mein ehemaliger Chefarzt hat sie direkt auch wirklich rausgezogen. Sie war gar nicht beim Patienten drin und er hat gesagt: „Was ist passiert? Was ist los? Können wir dir irgendwie helfen?“ Und man hat auch gemerkt: Ah, okay, sie war nicht so ganz da. Und wir haben sie nach Hause geschickt und haben dann auch damals ihr schon geraten, dass sie sich professionelle Hilfe holen soll. Und sie hat es auch angenommen und sich begleiten lassen. Ich weiß halt nicht, ob der Pfleger Mario das gemacht hätte.
Moderator:
Dem war, glaube ich, alles egal. Der war sehr perfide. Oktay, vielen Dank für deine Infos! Und da lernen wir wieder mal: Mit einer richtigen Fehlerlernkultur und mit Prävention bei allen Patientinnen und Patienten und auch Mitarbeitenden kann man schon im Vorfeld viel sehen und aktiv dazu beitragen, dass keine Fehler passieren.
Oktay Bahar:
Definitiv.
Moderator:
Vielen Dank.
Oktay Bahar:
Sehr gerne.
Moderator:
Das war heute ein sehr sensibles Thema, über das wir gesprochen haben. Und dabei nehme ich vor allem mit, dass Kommunikation und eine gesunde Unternehmensführung sowie eine gute Feedbackkultur wichtig sind, damit Verbrechensfälle wie im Klinikum rechts der Isar verhindert werden können — auch wenn das am Ende natürlich nie zu 100 Prozent garantiert werden kann. Außerdem kann ich festhalten, dass die überwältigende Mehrheit aller Pflegenden gute Absichten in ihrem Beruf hat und mit bestem Wissen und Gewissen im Sinne ihrer Patientinnen und Patienten handelt. Wenn euch die Folge gefallen hat, dann empfehlt doch diesen Podcast einfach weiter. Wir freuen uns außerdem auch immer über eine Bewertung oder Kommentare von euch.
Alle Folgen zum Nachhören findet ihr wie immer auf euren Lieblingsplattformen und natürlich auf der Website www.bgw-online.de/podcast. Bis zum nächsten Mal.
Oktay Bahar:
Tschüss.
Jingle:
Herzschlag! Für ein gesundes Berufsleben, der BGW-Podcast.
Interviewgäste
Professor Karl Beine
Emeritierter Professor für Psychiatrie und Psychotherapie, Autor
Oktay Bahar
Pflegerische Leitung ZNA Klinik für Akut und Notfallmedizin Klinikum Leverkusen gGmbH
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