Peer Beratung - Gewinn auf ganzer Linie? #43 BGW-Podcast "Herzschlag - Für ein gesundes Berufsleben"
Die BGW unterstützt Versicherte bei beruflich bedingten Erkrankungen und Arbeitsunfällen auf ganz verschiedene Weisen. Neben der reinen Heilbehandlung stehen weitere Angebote zur Verfügung. Zum Beispiel: Die Peer Beratung.
Menschen, die schwierige Situationen bewältigt haben, unterstützen Menschen mit Behinderungen. Wie das in der Praxis umgesetzt wird? Das und mehr erklären uns zwei Expertinnen und ein Experte in dieser Episode.
Hier kommen Sie zum Transkript dieser Folge
Block 01: Begrüßung und Einleitung
Moderator: Unterstützung von Menschen mit Behinderungen für Menschen mit Behinderungen. Kurz gesagt: Peer-Counseling. Noch nie gehört? Behinderungen können auf vielfältige Weise entstehen, zum Beispiel als Folge von Krankheit. Auch Lebensereignisse, zum Beispiel Unfälle mit einschneidenden Veränderungen, können traumatisierend und psychisch schwer belastend sein. Umso wichtiger ist es, den Betroffenen durch den Rehabilitationsprozess zu helfen. Bei der Peer-Beratung teilen Betroffene ihre Erfahrungen miteinander und sind sich gegenseitig eine starke Stütze. Wie genau das in der Praxis umgesetzt wird und wie eine Beratung abläuft, darüber sprechen wir in der heutigen Podcast-Folge. Ich bin Ralf Podszus und ich freue mich, dass sie mit dabei sind.
(Podcast-Opener)
Moderator: Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, die unterstützt Menschen bei beruflich bedingten Erkrankungen oder Arbeitsunfällen und das auf ganz verschiedenen Weisen. Ein Beispiel ist die Peer-Beratung. Gerade eben habe ich ja schon kurz angedeutet, worum es bei dieser Beratung geht. Genauer erklären können das Martina Magdalinski von der BGW, Maria-Elisabeth Hagel, die selbst als Peer arbeitet und Professor Bert Wagener. Er ist Professor für Rehabilitationswissenschaft an der Hochschule der DGUV. Und wir treffen uns hier beim Landschaftsverband in Münster in Westfalen. Das ist der Wohnort von Maria-Elisabeth Hagel. Da bin ich auch schon vor Ort. Ich bin im Gebäude drinnen. Ein riesengroßes Gebäude. Da hinten müsste das sein, wo ich hinmuss. Die Tür. Da warten auch schon alle drei auf mich. Und der Landschaftsverband ist thematisch auch hier die passende Location. Denn hier kümmern sich in diesem Kommunalverband insgesamt 18.000 Beschäftigten unter anderem um die Belange von Menschen mit Behinderungen. Da gehe ich jetzt einfach mal rein. Die warten ja schon auf mich.
Block 02: Interview mit Martina Magdalinski, Maria-Elisabeth Hagel und Prof. Bert Wagener
Moderator: Hallo.
Martina Magdalinski, Maria-Elisabeth Hagel, Prof. Dr. Bert Wagener: Hallo. Guten Morgen.
Moderator: Ich grüße euch.
Martina Magdalinski: Guten Morgen. Schön, dass Sie da sind.
Moderator: Schön, dass ich da sein darf. Ich sehe schon, ich habe hier einen Platz. Ich setzte mich einfach mal zu Euch. Vielen Dank. Sehr schön gemütlich habt ihr es hier.
Prof. Dr. Bert Wagener: Wir haben uns Mühe gegeben.
Moderator: Vielen Dank für die freundliche Aufnahme. Herr Professor Wagener, erst mal vorab die Frage an Sie: Was genau ist die Peer-Beratung und welche Bedeutung hat die Peer-Beratung für die Rehabilitation der Unfallversicherung?
Prof. Dr. Bert Wagener: Herzlichen Dank. Die Peer-Beratung ist grundsätzlich gar nicht rechtsgeschützt vom Begriff her. Ganz wichtig bei der Peer-Beratung ist, dass wir mitnehmen, dass Peers grundsätzlich Menschen sind, die ähnlichen Erfahrungshintergrund haben. Das heißt, in die Beratung beziehen wir Menschen ein, die ähnlich wie unsere bisherigen Versicherten, wie der akut Verletzte über bestimmte Erfahrung verfügt und so die Beratung letztendlich verbessern kann. Die Bedeutung dieser Beratung, also der Einbeziehung von Menschen mit besonderen Kenntnissen, hat eine vielfältige Bedeutung. Das heißt, wir haben auf der einen Seite die Bedeutung für unsere Versicherten, die können beraten werden auf Augenhöhe, also Menschen mit ähnlichen Verletzungen unterhalten sich miteinander. Führt dazu, dass die deutlich authentischer sind. Hat aber auch den Vorteil für die Reha-Manager, also für die professionellen Beratungskräfte, weil wir in dem Bereich natürlich eine Entlastung haben. Das heißt, die emotionale Ebene spielt eine Rolle, aber auch eine ganz bedeutende Rolle für den Träger, also hier in unserem Fall für die Unfallversicherung, weil eben entsprechend die Beratung und die Leistungsgewährung optimiert und passgenauer dargestellt wird. Und da kommen wir gleich noch zu Marie Hagel. Und natürlich auch für die Peers, also diejenigen, die im Endeffekt eine entsprechende Erkrankung schon mal kennengelernt haben, für die ist das ganz gut zu erkennen. Na ja, es ist nicht alles schlecht gewesen, sondern man kann vielleicht bestimmte Erfahrungen auch mitnehmen und anderen Menschen damit helfen.
Moderator: Und welche Chancen gibt es dabei und gibt es vielleicht auch Einwände oder sogar Kritik?
Prof. Dr. Bert Wagener: Also wir haben die Chancen zum Teil schon besprochen. Das heißt also, die Chancen sind da, dass praktisch eine passgenaue Rehabilitation möglich ist, dass also mehr Mut geschöpft wird, dass also die Energie der entsprechenden Versicherten weiter nach vorne gebracht wird. Und die Chance auch, dass eine Beratung, dass der Prozess, dass der Reha-Managementprozess gegebenenfalls deutlich verkürzt und optimiert wird, also das Ergebnis sich besser darstellt. Aber das kennen Sie ja auch aus dem privaten Kontext. Es ist ja auch so, dass aber wenn viele unterschiedliche Akteure zu Wort kommen und beschäftigt sind, beziehungsweise beteiligt sind, dass es da natürlich zu Reibungsverlusten kommt. Das heißt, es kann sein, dass die Beratung ganz andere Ideen hat als vielleicht der Reha-Manager oder die Reha-Managerin. Es kann sein, dass die Erfahrung vielleicht nicht in die Richtung gehen, die der Versicherte oder der Erkrankte gerne hätte. Und so kommt es ganz häufig natürlich dazu, dass es unterschiedliche Ideen, unterschiedliche Ziele geht. Und da kommt natürlich dem Reha-Management eine ganz bedeutende Rolle zu. Ziele zu benennen und im Vorfeld genau diese Netzwerkstrukturen zu lenken und abzugrenzen. Und dazu gibt es auch schon seit einiger Zeit gute Seminare, die helfen, dass die Akteure besser an einem Strang ziehen und ein Ziel verfolgen.
Moderator: Es hört sich sehr gut organisiert an. Frau Magdalinski. Warum ist die Beratung eine gute Ergänzung? Wo liegen die Unterschiede zu anderen Hilfsangeboten und welche Möglichkeiten zum Beispiel an bundesweiten und regionalen Angeboten gibt es?
Martin Magdalinski: Ein Peer ist im Grunde ein ebenbürtiger, ein gleich gestellter Mensch. Und es gibt bundesweit ganz viele verschiedene Angebote zur Peer-Beratung. Es ist so, dass es Fördergemeinschaften gibt, zum Beispiel für Querschnittsgelähmte oder es gibt Peers im Krankenhaus oder es gibt in den ergänzenden unabhängigen Teilhabe-Beratungsstellen gibt es auch Peer-Angebote. Und bei der BGW insbesondere gibt es ja die Behindertenhilfe und das Reha-Management. In der Behindertenhilfe gibt es auch verschiedene Peer-Projekte, wie zum Beispiel auch Peer-Beratung im Tandem oder Peer-Support in manchen Einrichtungen. Bei der Unfallversicherung haben wir eine Peer-Landkarte entwickelt und in dieser Peer-Landkarte haben das Reha-Management ihre Peer-Berater eingepflegt und es ist so, dass man bundesweit darauf zugreifen kann. Und wenn man einen entsprechenden Peer sucht nach einer bestimmten Verletzung oder eben eine Erkrankung wie Asbestose, kann man das über diese Landkarte machen.
Moderator: Und wie wichtig ist es, das Peer-Counseling und wie hoch ist die Akzeptanz davon?
Martina Magdalinski: Das Peer-Counseling hat eine hohe Bedeutung und wir würden gerne die Akzeptanz auch noch steigern. Es gibt ein zusätzliches Angebot zur Unterstützung. Ein Peer oder ein Peer-Berater ist ein lebendes Beispiel dafür, wie man in das Leben zurückfinden kann. Der Grundgedanke ist, dass der Peer-Berater über Erfahrung verfügt, die für den gerade frisch verletzten Menschen eine Unterstützung sein kann. Und das ist jemand, dem man vielleicht die Sorgen leichter erzählen kann, der mit Dingen auch vertraut ist, die manche Expertinnen oder Experten gar nicht so kennen, insbesondere wenn es um lebenspraktische Themen geht. Und deswegen gibt es eben auch so viele verschiedene Angebote für verschiedene Erkrankungen oder Unfälle. Und man sieht, die Zahl der Angebote wächst. Und da sieht man auch daran, dass es wirklich auch eine gute Sache ist, die mehr und mehr in Frage kommt. Und wir freuen uns deswegen sehr, dass wir dieses Thema heute hier in dem Podcast vorstellen können.
Moderator: Darüber freue ich mich auch. Und Herr Professor Wagner, Ihr Schwerpunkt liegt ja auf der Teilhabe und der Psychologie. Braucht so eine Beratung jetzt viel Struktur und wenn ja, wie wird das dann insgesamt umgesetzt?
Prof. Dr. Bert Wagener: Sie haben es gerade schon sehr schön betont. Die Teilhabe ist ja der Dreh- und Angelpunkt, und wir haben gerade schon zu Beginn die vielen Akteure benannt und Frau Magdalinski hat uns das auch dargelegt. Das heißt also, wenn ich viele Akteure habe, muss ich die ja irgendwie strukturieren. Ich muss versuchen, im Endeffekt alle Beteiligten an einen Tisch zu holen, in Anführungsstrichen, und von daher ist es sehr wichtig, Struktur herzustellen. Struktur stellen wir ja in der gesetzlichen Unfallversicherung häufig durch eine Rehabilitationsplanung. Das heißt: Zu Beginn sollten alle Akteure, sei es die Peer-Beraterin oder der Peer-Berater, die Reha-Managerin, die Sachbearbeitung oder eben der Versicherte selbst wissen, worauf er sich einlässt und wo das Ziel ist. Und ich glaube, da können wir mit der entsprechenden Zielfindung ganz gut strukturieren, damit wir alle an einem Strang ziehen, damit am Ende für alle Beteiligten das Verfahren und somit das Peer-Counseling zu einem Erfolg wird. Und von daher ist die Beratung an der Stelle wirklich sehr wichtig, aber auch ein bisschen komplizierter und lebt von der Zusammenarbeit aller Akteure.
Moderator: Jetzt haben wir ganz schön viel Theorie gehört, aber wie läuft das jetzt praktisch eigentlich ab?
Prof. Dr. Bert Wagener: Praktisch sieht es so aus, dass als erste Ansprechperson der Reha-Manager oder die Reha-Managerin Kontakt mit dem oder der Versicherten aufnimmt und wird festgestellt, dass hier ein besonderer Beratungsbedarf ist, dann netzwerkt praktisch der Berater, die Beraterin, also die Managerin bei der Unfallversicherung, bei der BGW. Das heißt, die Person ist Netzwerkerin und zieht eben alle weiteren Akteure, so auch die Beratung dazu. Und von daher ganz wichtig hier die Rolle der Manager, die eben im Endeffekt den Anstoß geben, wie eine Beratung aussehen soll.
(7 Sekunden Musik)
Moderator: Maria-Elisabeth Hagel ist auch bei uns und sie arbeitet selbst als Peer. Vielleicht können Sie mal aus Ihrer Sicht erklären, wobei die Peer-Beratung helfen kann. Und dann kommen wir auch mal ganz persönlich auf Ihren Fall auch noch zu sprechen.
Maria-Elisabeth Hagel: Also ich helfe Versicherten dabei, weil ich neben der beruflichen und medizinischen Reha, die jeder Verletzte oder Unfallversicherte bekommt, als Mensch mit gleichen und ähnlichen Erfahrungen schnell eine verständnisvolle gemeinsame Ebene zu dem Menschen finden kann. Und somit können auch im weitesten Sinne Anfänge von sozialer Reha miteingeschlossen werden. Und ich helfe gerne, weil, als ich den Unfall vor 28 Jahren hatte, da glaubte ich noch, dass niemand verstehen könnte, was ich erlebt habe. Ich hatte ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und bin nach sieben Wochen Koma aufgewacht und konnte nichts: nicht sprechen, nicht schlucken, nicht reden, mich nicht bewegen, komplett nichts. Und wunderte mich aber extrem darüber, dass alle anderen im Akut-Krankenhaus mir so wenig Respekt gegenüber brachten. Ich dachte immer: Mein Gott, ich bin doch Gymnasiallehrerin, ich bin in der Funktion auf 15 tätig. Warum behandeln die mich so merkwürdig? Mein Selbstbild, das ich vor dem Schaden entwickelt hatte und mein ich danach, 45 Kilo, nichts können und nicht sprechen können, passte überhaupt nicht mehr zusammen. Und ich musste lernen, dass ich dieses Selbstbild wieder neu entwickeln muss, und angleichen an den Fakt. Und dabei kann ich anderen Patienten helfen, indem ich als Modell zeige, da geht was, es passiert nicht von heute auf morgen. Man muss sich die Zeit geben, aber da kann man eine ganze Menge schaffen. Dann hat man quasi das, was in der Psychologie oft mit Empowerment bezeichnet wird. Diese Kraft entwickeln, für sich selber aktiv zu werden, die eigenen Potenziale und Ressourcen zu nutzen. Und ich glaube, jeder verunfallte Mensch hat Kräfte und deswegen ist es einfach, glaube ich, sehr wichtig, dass ich wie ein Modell komme. Ich komme nicht mit konkreten Ansätzen und Theorien, was dieser verunfallte oder erkrankte Mensch machen muss, sondern ich bin einfach nur das Modell: Es geht was. Und das ist akzeptabel, weil Menschen, die ähnliche Verletzungen und Schäden haben, fühlen und spüren, dass andere gegenüber auf einer Ebene ist und da eine Identifikation stattfindet.
Moderator: Sie sitzen hier ganz normal mit uns zusammen. Ich sehe, da hinten parkt Ihr Roller, mit dem Sie sehr mobil sind. Der bringt Sie quasi auch richtig ins Leben wieder zurück. Damit können Sie schnell von A nach B kommen. Mögen Sie erzählen, was das für ein Unfall war, der Sie so abrupt aus dem Leben rausgerissen hat?
Maria-Elisabeth Hagel: Ich bin von einem Auto erfasst worden als Fahrradfahrerin und habe ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und Polytrauma bekommen. Und da kämpft man natürlich sein Leben lang mit den Folgen und versucht immer wieder neue Vernetzungen in seinem Gehirn zu aktivieren und findet überhaupt kein Ende. Und deswegen ist es gut, dass man einfach den Weg gehen kann, immer neue, andere Modelle zu finden, die für einen selber wichtig sind. Für mich ist es der Tretroller, den Sie angesprochen haben. Den bekam ich sozusagen als Gerät zum Aufbau von Muskulatur. Und als ich damit anfing zu fahren, habe ich sehr schnell gemerkt: Hallo, das ist viel mehr. Das ist nicht nur Muskelaufbau, das ist für mich auch Mobilität. Und Mobilität heißt auch Freiheit. Und damit habe ich auch soziale Teilhabe gefunden. Und es gibt natürlich Bedingungen, die man für so ein Modell braucht, denn ein großer Roller mit behinderten-Schildern, der ist schon auffällig und viele Passanten in der Stadt gucken auch einfach doof. Und die Bedingung ist eben, dass ich das nutzen kann, dass ich auch eine Toleranz dem gegenüber habe und mich das überhaupt nicht mehr ärgert. Sondern es geht um meine Mobilität. Da können die noch so blöd gucken, interessiert mich nicht. Die zweite Bedingung ist, dass ich Gleichgewicht brauche. Wer kein Gleichgewicht hat, der wird auch Schwierigkeiten haben, Roller fahren zu können. Na ja, und dann kann es auch nicht schaden, wenn man relativ angstfrei ist, weil ab und an fällt man auch mal hin. Aber das ist wie bei Kindern, da hat man aufgeschürftes Knie und mehr nicht. Und deshalb kann ich sagen, dass dieser Roller eben mein eigenes Reha mitlässt. Was ich gefunden habe, was zu mir passt. Was die Muskelaufbau, aber eben mich auch insbesondere in der sozialen Reha weiterbringt. Und das im wahrsten Sinne des Wortes weiterbringt.
Moderator: Nach Ihrem schweren Verkehrsunfall, der Sie herausgerissen hat aus Ihrem alten Leben, haben Sie eindringlich erzählt: 45 Kilogramm nur noch schwer. Sie konnte nicht mehr sprechen, gar nichts. Sie haben gesagt, Sie mussten die neue Rolle, das neue Ich akzeptieren. Wie lange hat dieser Prozess gedauert? Der Genesungsprozess und dann auch sich selbst neu finden und auch damit abfinden, wie man eben jetzt ein anderer Mensch ist.
Maria-Elisabeth Hagel: Abfinden, das finde ich schon fast zu hart. Ich würde sagen, ich habe mich damit arrangiert, dass ich ein anderes Leben habe als ein anderer Mensch.
Moderator: Klingt doch viel besser. Sie haben absolut Recht.
Maria-Elisabeth Hagel: Arrangieren bedeutet: Ich kann damit umgehen und habe damit eine gewisse Handlungskompetenz. Und damit bekommt das Ganze so einen Hauch von Sinnhaftigkeit, die ich irgendwie auch brauche, um damit klar kommen zu können. Und man kann auch nicht sagen, dass man irgendwie damit fertig ist. Es braucht schon sehr, sehr lange. Und ich merke noch heute, dass es mir manchmal passiert, dass ich auf einmal denke: Huch, der oder das Gegenüber denkt, ich bin behindert. Ach ja, bin ich ja auch. Das vergesse ich auch. Und das ist natürlich auch gut, dass man irgendwo diese Anknüpfung an sein altes Leben hat und das neue, und dass es mal vielleicht auch ein bisschen switchen kann und dann nicht so ganz glatt geht. Das ist auch immer noch in Ordnung. Und dieses kann ich alles dem gegenüber zeigen, weil das Gegenüber spürt, ah, die hatte auch die Probleme. Sie wusste auch nicht, wie sie auf Toilette kommt, sie wusste auch nicht, wie sie in den Bus kommt. Diese ganzen Alltagsprobleme spürt mein Gegenüber sofort. Und deswegen kann auch Hoffnung übertragbar werden. Das kann man nicht vortragen. Das muss man sehen.
Moderator: Und es können die einfachen, die banalen Dinge des Lebens schon eine große Herausforderung sein, wie wenn man einfach nur auf die andere Straßenseite möchte. Und dann gibt es da nicht die richtigen abgesenkten Bordsteine oder so was. Nun sind Sie ja selbst als Peer tätig. Haben wir drüber geredet, welche Aufgaben haben Sie dort im Beratungsgespräch?
Maria-Elisabeth Hagel: Die Aufgaben sind halt, dass ich mich nicht reinziehen lasse, in Bereiche, für die ich nicht zuständig sind. Erstmal muss man ganz klar sagen: Das sind die Grundprobleme, dass viele Verletze erstmal auch rechtliche oder medizinische Auskünfte haben wollen. Das ist überhaupt nicht mein Thema. Sondern ich muss einfach nur versuchen zu schauen: Gibt es Ansatzpunkte? Wo könnte man vielleicht den anderen unterstützen, auch ein stabiles neues Selbstwertgefühl zu entwickeln. Ich habe also keine intellektuelle oder fachliche Beratung und dementsprechend ist die Kommunikation also auch über eine Ebene, dass die Verbindung über Identifikation läuft und Nähe der Gesprächspartner. Und dieses gefühlte Verständnis für das Leben des Anderen, das ist das Entscheidende. In der Kommunikation habe ich also nicht das Formblatt vom Reha-Management, wo ich die Punkte eins bis acht abarbeite, sondern ich unterhalte mich und erkenne, wo liegen die Schwierigkeiten von meinem Gegenüber und wo kann ich sie oder ihn stärken, dass eine Reha möglich wird.
Moderator: Herr Professor Wagener hat es eben schon erklärt, dass eine Beratung strukturiert ablaufen muss. Worauf muss man noch ganz besonders achten und warum ist die Vorbereitung darauf auch so wichtig?
Maria-Elisabeth Hagel: Die Vorbereitung ist natürlich immer auch unter Datenschutz-Bedingungen heutzutage gegeben. Und deshalb muss ich sehen, dass ich vom Reha-Manager die Daten, die ich bekomme, über den Gesprächspartner. Zu schauen, was ich konkret bewirken muss. Wo liegen Probleme in der Reha vielleicht, die schon benannt werden können und mir da überlegen: Habe ich da überhaupt einen Ansatz als Modell? Ich kann eben nicht alles, sondern man muss gucken, ob der Peer auch zu dem oder derjenigen passt, die beraten werden muss, zu dem Problem. Dann kann ich mich speziell auch überlegen, welche modellhaften Ansätze kenne ich, habe ich erlebt oder weiß ich aus Erzählungen vielleicht auch glaubhaft von anderen zu berichten? Da ich ja eben nach 28 Jahren auch diverse Krankenhaus- und Reha-Aufenthalte hatte, über die ich auch sehr, sehr viel mitbekommen habe, kann ich natürlich viel berichten. Und da muss ich aber wissen, was gefragt ist, dass ich mich darauf vorbereite.
Moderator: Das können Sie dann sehr einfühlsam dann wahrscheinlich auch machen.
Maria-Elisabeth Hagel: Sicher, das ist natürlich eine ganz andere Ebene. Ob ein Mediziner oder ein Reha-Manager über eine Methode berichtet oder ich als Versicherte über das berichte, was ich erlebt habe, was ich gespürt habe dabei und wie es mich weitergebracht hat. Diese immer diese Prozesshaftigkeit, dass es etwas gibt, was mich weiterbringt, dass ich versuche, immer darauf zu schauen, wo können diese positiven Ansätze liegen.
(6 Sekunden Musik)
Moderator: Frau Magdalenski, wir haben das jetzt von Frau Hagel sehr anschaulich erzählt bekommen. Wie sieht die Umsetzung in der Praxis aus?
Martina Magdalinski: Die Umsetzung in der Praxis sieht so aus, dass das immer geguckt wird, nach je nach Fall. Also ist es ein Unfall und welcher Unfall ist es? Eine Erkrankung und welche Erkrankung? Und ganz besonders oder noch mal ganz anders ist der Punkt natürlich, wenn es sich um eine psychische Erkrankung handelt. Bei der Peer-Landkarte kann man halt die verschiedenen vier Peer-Berater oder Peer-Beraterinnen sich heraussuchen oder eben auch in anderen Netzwerken gucken, was es halt so gibt. Was ich auch schon gesagt habe, Fördergemeinschaft für Querschnittsgelähmte oder Peers im Krankenhaus und so, da gibt es verschiedene Sachen. Dann ist es zum Beispiel so, dass manche Peer-Beraterinnen und Peer-Berater in der Asbestose-Sprechstunde auch mit dabei sind und dann eben schon vor Ort Erkrankten Antworten geben können. Es liegt am Verletzungsgerad, was er hat, ob er verletzt ist, ob er eine Amputation hat oder zum Beispiel bei einer Amputation im Krankenhaus wird relativ schnell eine Peer-Beratung angeboten. Bei einer Schädel-Hirn-Verletzung wie bei Frau Hagel ist das natürlich was ganz anderes. Da dauert es längere Zeit, bis man überhaupt auch Kontakt aufnimmt oder auch Kontakt aufnehmen kann. Dann es liegt, wie gesagt, am ganz konkreten Einzelfall, welche zusätzlichen Hilfen angeboten werden. Und es kommt auch darauf an, wie das Heilverfahren gerade läuft, ob überhaupt auch noch Zeit ist, eben auch Peer-Beratung anzubieten. Das Angebot sollte aber auf jeden Fall gemacht werden, weil man nie weiß, man kann das nie so einschätzen. Was ist auch in der Familie jetzt los durch den Unfall? Was ist da vielleicht an Problematiken? Es gibt gerade auch bei Schädel-Hirn-Verletzungen zum Beispiel, aber auch bei anderen gibt es gerade in den Familien Umsetzungs-Schwierigkeiten. Es gibt Umgewöhnungs- Schwierigkeiten, alle müssen sich neu orientieren. Und wenn die Familie stabil ist, ist das eine große Hilfe. Es gibt aber auch Fälle, wo zum Beispiel Peer-Berater auf Honorarbasis auch in Familien gehen und auf Honorarbasis als Peer-Berater auch die ganze Familie beraten. Oder eben auch zum Beispiel bei Amputationen Peer-Berater, die auch mit auf der Arbeit sind und gucken, welche Art Prothese ist für die Arbeit geeignet, welche nicht so und gucken dann genau, was ist da hilfreich und nützlich? Da gibt es ganz viele verschiedene Angebote für den Bereich.
Maria-Elisabeth Hagel: Gerade bei Schädel-Hirn-Trauma-Verletzten in der ersten Phase, wie Frau Magdalinski sagte, macht es wenig Sinn, sie schon zu beraten. Aber meine Aufgabe als Peer ist es da oft, die Familie zu beraten. Sie können sich vorstellen, wie die geschockt sind, wenn man auf einmal 45 Kilo wiegt und nicht essen, sprechen, gar nichts mehr kann. Meine Mutter hat mir Kleidung in Größe 164 gekauft und nicht in Größe 34. Nein, ich kriegte Kinderkleidung. Und das sagt alles, dass man auch wie ein Kind behandelt wurde. Und da ist es halt wichtig, die Familie zu beraten, dass da was geht, dass ich auch so war wie ihr Angehörige und heute anders dastehe und dass man was arrangiere kann. Und da ist es einfach wichtig, Mut zu machen, dass auch die Familie aktiv den Reha-Prozess weiter unterstützt und nicht verzweifelt.
Moderator: Frau Magdalinski, Frau Hagel, Herr Professor Wagener, ich bedanke mich vielmals, dass ich heute hier sein durfte und Frau Hagel, auch vielen Dank für Ihre sehr persönlichen und intimen Einblicke in dieser Podcastfolge.
Maria-Elisabeth Hagel: Gern doch.
Prof. Dr. Bert Wagener: Danke.
Block 03: Verabschiedung
Moderator: Natürlich finden Sie alle wichtigen Links zum Thema in den Podcast-Shownotes dieser Folge und dort finden Sie auch alle Weiterbildungsprogramme noch einmal gesammelt. Wenn Sie keine Folge mehr verpassen wollen, dann abonnieren Sie am besten diesen Podcast. Alle Folgen finden Sie überall dort, wo es Podcasts gibt und auf der Website der BGW, www.bgw- online.de/podcast. Schön, dass Sie heute wieder mit dabei waren, und ich freue mich auf die nächste Folge. Bis dahin: Tschüss aus Münster in Westfalen. Herzschlag für ein gesundes Berufsleben der BGW-Podcast.
(Outro – Herzschlag. Für ein gesundes Berufsleben, der BGW Podcast)
Interviewgäste
Martina Magdalinski
Fachkoordinatorin für Beratung und Inklusion bei der BGW, Reha-Koordination
Maria-Elisabeth Hagel
Peer Beraterin
Prof. Dr. Bert Wagener
Professor für Rehabilitationswissenschaft, Schwerpunkt Teilhabe und Psychologie
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