Jingle:
Herzschlag! Für ein gesundes Berufsleben – der BGW-Podcast.
Moderator:
Schauen wir uns mal im Alltag um – zum Beispiel im Supermarkt, am Flughafen, im Einkaufszentrum oder an der Tankstelle. Wie oft sehen wir dort Menschen mit Behinderungen bei der Arbeit? Menschen im Rollstuhl, die meine Einkäufe abrechnen – ehrlich gesagt, die sehe ich nie. Dabei sind Unternehmen mit mehr als zwanzig Mitarbeitenden gesetzlich dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderungen einzustellen – auch euer Supermarkt um die Ecke. Die Realität sieht oft anders aus, das zeigt auch das Inklusionsbarometer der Aktion Mensch.
Der Rollstuhl ist dabei nur eines von vielen möglichen Bildern für Behinderungen – aber eben eines, das sofort ins Auge fällt. Trotzdem begegnet er uns im Berufsleben kaum. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum Dr. Leopold Rupp immer wieder zum Thema Inklusion interviewt wird und ihn bei seiner Arbeit auch Kameras begleiten. Leopold lebt mit diastrophischer Dysplasie – einer angeborenen Form der Kleinwüchsigkeit. Er sitzt im Rollstuhl und arbeitet als Arzt an der Charité in Berlin in der Notaufnahme. Mit ihm will ich über seine Arbeit sprechen, klar, auch über Inklusion – aber vor allem möchte ich Leopold kennenlernen. Denn er ist nicht nur Arzt, er war als Sportschütze bei den Paralympics, engagiert sich ehrenamtlich, reist gern, liebt Konzerte – Leopold ist ein echt interessanter Typ. Genau deshalb ist er heute bei mir. Hi Leopold, grüß dich!
Dr. Leopold Rupp:
Hallo Ralf, vielen Dank.
Moderator:
Du stehst kurz vor dem Facharzt. Wie lange hast du noch – wann bist du fertig?
Dr. Leopold Rupp:
Ja genau, in Deutschland ist es ja so, dass man erst Humanmedizin studiert – zwölf Semester, also sechs Jahre – und dann in der Regel die meisten noch eine Facharztausbildung dazu machen. Das ist dann berufsbegleitend und dauert noch mal ungefähr fünf Jahre. Ich bin nächstes Jahr im Sommer mutmaßlich fertig, soweit ich dann die Prüfung bestehe.
Moderator:
Warum hast du dich damals für das Medizinstudium entschieden?
Dr. Leopold Rupp:
Das hat verschiedene Gründe. Ehrlicherweise ist es mir ein bisschen in die Wiege gelegt – meine Eltern sind beide Ärzte, und auch mein Großvater war Arzt. Also schon eine längere Familientradition. Auf der anderen Seite war es so zu Abizeiten, dass ich im Freundeskreis mehrere Freunde hatte, die auch Medizin studieren wollten. Dann war ich mit zwei Freunden in Berlin zum Tag der offenen Tür der Freien Universität – und danach war ich überzeugt.
Moderator:
Und beim Anschauen hast du auch gleich gecheckt, ob es barrierefrei ist, ne?
Dr. Leopold Rupp:
Ein Stück weit schon, aber ein Stück weit auch nicht – es gibt da eine lustige Geschichte. Ich habe mich an der Charité in Berlin eingeschrieben, und in der Ersti-Woche im Oktober 2011 stand ich mit mehreren hundert anderen Studierenden vor dem Anatomiegebäude – ein uraltes Gebäude mit einer Freitreppe am Eingang. Auf der Treppe stand der Chef des Studierendensekretariats und sagte: „Oh, sind Sie etwa auch neuer Student?“ – während er oben auf der Treppe stand. Das war schon ein Bild: Er stand oben, ich unten. Aber das ließ sich im Studium gut lösen.
Moderator:
Seit deinem Studium gibt’s da sicher eine Rampe. Du arbeitest nicht nur in der Notaufnahme, sondern auch regelmäßig in einer Landarztpraxis in Schleswig-Holstein. Moin – ist das so ein Ausgleich zur stressigen Notaufnahme?
Dr. Leopold Rupp:
Nee, Ausgleich ist es nicht – ich muss es machen, aber ich mache es auch aus Überzeugung, weil es mir Spaß macht. Ich mache den Facharzt für Allgemeinmedizin. Man muss wissen: In Deutschland gibt es keinen Facharzt für Notfallmedizin, in anderen europäischen Ländern schon. Man muss also einen anderen Facharzt machen und dann noch eine zweijährige Zusatzweiterbildung. Insgesamt ist man so dreizehn, vierzehn Jahre beschäftigt, bis man fertig ist.
Moderator:
Kannst bald in Pension gehen …
Dr. Leopold Rupp:
Ja, genau (lacht).
Moderator:
Wenn du in Berlin arbeitest und dann in Schleswig-Holstein in der Landarztpraxis – das ist ja vom Weg her eine Ansage.
Dr. Leopold Rupp:
Das stimmt. Erstens ist es die Praxis meiner Eltern – das macht mir Spaß. Zweitens: Viele Praxen in Berlin sind nicht barrierefrei. Die liegen oft im Altbau, im zweiten Stock ohne Aufzug, oder haben Stufen am Eingang. Ich wollte nicht jeden Morgen meinen Rollstuhl hochtragen lassen. Deswegen arbeite ich in der Praxis meiner Eltern.
Moderator:
Das sollte selbstverständlich sein – Barrierefreiheit ist ja ein Grundrecht.
Dr. Leopold Rupp:
Absolut.
Moderator:
Du hast vorhin erwähnt, dass die Charité nicht in allen Bereichen barrierefrei ist. Das ist ja dein Hauptarbeitsplatz – musst du da manchmal improvisieren, um im Alltag klarzukommen?
Dr. Leopold Rupp:
Ja, das muss ich wohl. Wobei ich auch immer sage: Es gibt kaum Arbeitsplätze, die so barrierefrei sind wie ein Krankenhaus. Da muss man unterscheiden zwischen Studium – das findet in alten Gebäuden statt – und Berufsalltag. In der Klinik selbst ist vieles gut zugänglich, weil man überall mit Betten durchkommen muss. Solange ein Bett durch eine Tür passt, komme ich auch mit dem Rollstuhl durch. Es gibt aber noch Luft nach oben, etwa bei Sehbehinderungen oder Leichter Sprache. Nur weil es keine Stufen gibt, ist es ja noch nicht komplett barrierefrei.
Moderator:
Genau, Barrierefreiheit betrifft ja weit mehr als Rollstühle. Wie sähe für dich ein wirklich inklusives Krankenhaus aus?
Dr. Leopold Rupp:
Da müsste wirklich alles mitgedacht werden: Blindenleitsysteme, klare Piktogramme, Orientierungshilfen – für jede Form von Behinderung. Wenn ein Ort Inklusion leben sollte, dann ein Krankenhaus.
Moderator:
Gab’s schon Situationen in der Notaufnahme, die dich an deine Grenzen gebracht haben, weil etwas nicht barrierefrei war?
Dr. Leopold Rupp:
Gefährlich war es noch nie – man arbeitet ja nie allein. Selbst nachts um drei sind in der Notaufnahme immer mehrere Pflegekräfte und Ärztinnen im Dienst. Klar, manches ist zu hoch oder unpraktisch, aber das betrifft auch Kolleginnen und Kollegen, die kleiner sind – die müssen dann eben auf den Hocker steigen.
Moderator:
Wie reagieren Patientinnen und Patienten auf dich als Arzt im Rollstuhl?
Dr. Leopold Rupp:
Meistens gar nicht – und das ist auch gut so. Ich sage ja nicht: „Hallo, ich bin Ihr rollstuhlfahrender Arzt.“ Ich bin einfach ihr behandelnder Arzt. Und dann spielt meine Behinderung keine Rolle.
Es gibt zwei Extreme: Kinder finden es oft super – „Guck mal, Mama, Arzt im Rollstuhl!“ – und merken, dass sie das auch können. Das ist für mich immer ein schöner Moment. Das andere Extrem sind betrunkene Patienten, meist Männer, die dumme Sprüche machen. Dann spreche ich das direkt an, freundlich, aber bestimmt. Und das Thema ist erledigt. Dass jemand fragt, wann der „richtige“ Arzt kommt, ist mir zum Glück nie passiert – meinen weiblichen Kolleginnen ohne Behinderung passiert das dagegen ständig.
Moderator:
Du hast mal gesagt: „Nicht jeder Mensch kann ins Weltall fliegen und nicht jeder läuft Marathon.“ Hast du den Eindruck, dass Menschen mit Behinderung immer noch zu sehr daran gemessen werden, was sie nicht können?
Dr. Leopold Rupp:
Ja, das passiert oft. Viele denken, ich sei besonders schlau, weil ich Arzt geworden bin – „trotz“ Behinderung. Vielleicht bin ich aber auch wegen meiner Behinderung Arzt geworden. Ich war kein Überflieger – ich will einfach meinen Job gut machen, nicht wegen, sondern unabhängig davon.
Menschen mit Behinderung sind ein Teil der Gesellschaft – zehn Prozent etwa – und spiegeln damit auch ihren Durchschnitt wider. Es muss Ärztinnen, Kassierer, Musikerinnen, ja, auch Verbrecher mit Behinderung geben – weil wir eben Teil der ganzen Gesellschaft sind.
Moderator:
Was sagen deine Kolleginnen und Kollegen, wenn mal wieder ein Kamerateam in der Notaufnahme steht?
Dr. Leopold Rupp:
Das ist unterschiedlich. Wir sind kein Filmset, sondern machen Spitzenmedizin. Manche finden die Aufmerksamkeit gut, andere nicht so. Ich achte darauf, dass niemand sich überfahren fühlt – es geht ja immer um die Arbeit, nicht um Show.
Moderator:
Wie wird Inklusion in eurem Team gelebt?
Dr. Leopold Rupp:
Ganz selbstverständlich. Egal ob Herkunft, Geschlecht oder Behinderung – es zählt, wie man zusammenarbeitet. Ich bin sehr dankbar, an der Charité in so einem Umfeld zu sein.
Moderator:
Du reist gern und viel – Kanada, Marokko, Dänemark, Frankreich – und fährst Monoski. Wie inklusiv ist Reisen für dich?
Dr. Leopold Rupp:
Sehr unterschiedlich. Japan zum Beispiel war unglaublich barrierefrei. In Vietnam oder Ecuador weniger – dafür sind die Menschen dort unglaublich hilfsbereit. Ich reise gern, weil man lernt, andere Perspektiven zu sehen und zu merken, wo Deutschland gut dasteht und wo nicht.
Moderator:
Du sagst gern: „Einfach mal machen.“ Steckst du mit dieser Haltung andere an?
Dr. Leopold Rupp:
Ich hoffe doch! Wenn ich nur eine Person inspiriere, hat es sich schon gelohnt. Ich hatte selbst Vorbilder – eine Freundin mit derselben Grunderkrankung war Staatsanwältin. Das hat mich motiviert. Wenn ich das Gleiche weitergeben kann, bin ich glücklich.
Moderator:
Wie ist deine Beziehung zu Fahrstühlen in Deutschland? Kennst du welche ohne Uringeruch, die funktionieren?
Dr. Leopold Rupp:
(lacht) Wenige! Ich wohne im Altbau mit einem Aufzug von 1908 – der ist regelmäßig kaputt. Wenn ich dann nicht in meine Wohnung komme, ist das hart. Ich bin eigentlich sehr selbstbestimmt, aber in dem Moment werde ich plötzlich sehr mit meiner Behinderung konfrontiert – das ist emotional schwierig.
Moderator:
Du hast Japan erwähnt, wo Menschen sofort helfen. Fehlt uns in Deutschland manchmal einfach dieses Anpacken?
Dr. Leopold Rupp:
Ja, absolut. In vielen Ländern helfen Menschen spontan. Hier wird oft erst diskutiert, ob man helfen darf. Das ist schade.
Moderator:
Dann müssen wir natürlich noch über die Deutsche Bahn reden …
Dr. Leopold Rupp:
(lacht) Ja, da geht einiges. Die ICEs haben drei Stufen – das ist absurd für Hochgeschwindigkeitszüge. Ich muss Hilfe anmelden, eine mobile Rampe bestellen – das ist alles andere als selbstbestimmt. Ich frage mich, wie das mit einer Bahncard 100 funktionieren soll. Einfach einsteigen wie andere – geht ja gar nicht.
Moderator:
Neben dem Reisen ist Sport deine große Leidenschaft. Du warst mehrfacher Deutscher Meister im Sportschießen und 2012 bei den Paralympics in London. Was hat dir der Sport fürs Leben gegeben?
Dr. Leopold Rupp:
Disziplin, Durchhaltevermögen und den Umgang mit Stress. Sportschießen ist Mentalsport – man lernt, in Drucksituationen ruhig zu bleiben. Davon profitiere ich heute in der Notaufnahme. Ich war nie zufrieden mit Platz 55 – ich wollte immer der Beste sein. Das prägt.
Moderator:
Du engagierst dich ehrenamtlich bei der Deutschen Behindertensportjugend. Warum ist dir das so wichtig?
Dr. Leopold Rupp:
Weil ich viel Glück hatte. Ich konnte trotz Behinderung Sport treiben, meine Eltern haben mich unterstützt – das möchte ich weitergeben. Ich will, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung überall Sport treiben können, in der Schule, im Verein, im Wettkampf.
Moderator:
Warum gibt es eigentlich nicht einen gemeinsamen Verband für alle?
Dr. Leopold Rupp:
Das kann man diskutieren. Inklusiv wäre es sicher schön, aber man braucht auch Interessenvertretungen, die speziell für Menschen mit Behinderung sprechen – sonst werden wichtige Themen schnell leiser.
Moderator:
Wie ist dein Eindruck aus Gesprächen mit der Politik? Kommt das Thema an?
Dr. Leopold Rupp:
Ich glaube schon. Viele hören zu, wenn man deutlich macht, dass Behinderung uns alle betrifft. Kein Mensch stirbt ohne eine Behinderung – manchmal dauert sie nur Sekunden. Deswegen geht Barrierefreiheit alle an – auch die Wählerinnen und Wähler.
Moderator:
Aber Politik denkt oft nur bis zur nächsten Wahl …
Dr. Leopold Rupp:
Genau. Wir brauchen mehr Weitsicht. Ob Infrastruktur oder Inklusion – es geht um die nächsten 30, 40 Jahre, nicht nur um vier. Das ist Verantwortung, gerade für Politikerinnen und Politiker.
Moderator:
Zum Schluss habe ich noch ein paar Sätze, die du bitte vervollständigst … bereit?
Dr. Leopold Rupp:
Klar, immer.
Moderator:
Mein Opa Wolfgang hat mich besonders geprägt, weil …
Dr. Leopold Rupp:
… er mir gezeigt hat, Dinge zu hinterfragen, nachzulesen und Wissen als etwas Schönes zu begreifen.
Moderator:
Ein Satz, den ich nicht mehr hören kann, ist …
Dr. Leopold Rupp:
„Toll, dass du mit deiner Behinderung Arzt geworden bist.“
Moderator:
Wenn ich nicht Arzt geworden wäre, dann …
Dr. Leopold Rupp:
… hätte ich wahrscheinlich BWL studiert.
Moderator:
Ein Song, den alle gehört haben müssen, ist …
Dr. Leopold Rupp:
„Bunte Pyramiden“ von Querbeat.
Moderator:
Kenne ich noch nicht – wird sofort nachgeholt. Leopold, danke dir, dass du uns mitgenommen hast in deinen Alltag als Arzt, in den Sport, auf deine Reisen und in dein Engagement für echte Inklusion.
Dr. Leopold Rupp:
Sehr gern, vielen Dank für das Gespräch.
Moderator:
Alle Links zu Leopolds Instagram-Profil und zur Deutschen Behindertensportjugend findet ihr wie immer in den Shownotes dieser Podcast-Folge – und natürlich auch weitere inspirierende Gespräche, zum Beispiel mit Ninia LaGrande, Dominik Stark oder Verena Bentele. Wenn euch die Folge gefallen hat, abonniert den Podcast gern und lasst eine Bewertung da. Bis zum nächsten Mal – und dir, Leopold, weiterhin alles Gute!
Dr. Leopold Rupp:
Danke schön!
Jingle:
Herzschlag! Für ein gesundes Berufsleben – der BGW-Podcast.