Wie können wir Barrieren im Kopf abbauen, Verena Bentele? #108 BGW-Podcast "Herzschlag - Für ein gesundes Berufsleben"
Verena Bentele ist eine Ausnahmesportlerin, die als Biathletin und Skilangläuferin extrem erfolgreich war und für viele ein Vorbild ist. Als blinde Sportlerin setzt sie sich seit vielen Jahren für die Themen Inklusion und Teilhabe in der Gesellschaft ein.
In dieser Ausgabe von „Inspirierende Menschen im Berufsalltag“ lernen wir Verena Bentele ganz persönlich kennen: Was treibt sie an? Welche Rolle spielt der Sport auch heute noch in ihrem Leben? Wie geht sie mit Rückschlägen und Niederlagen um? Und wie schwer ist es eigentlich, auf politischer Ebene etwas zu bewegen? Ihre Antworten darauf hört ihr in dieser Folge.
Hier kommen Sie zum Transkript dieser Folge
Stimme aus dem Off:
Verena Bentele, eine absolute Powerfrau. Als blinde Biathletin und Langläuferin hat sie zwölfmal Gold bei den Paralympics geholt. Insgesamt vier Weltmeistertitel und zahlreiche Weltcup-Gesamtsiege. Verena ist von Geburt an blind. Das hat sie allerdings nie aufgehalten. Sie hat den Kilimandscharo bestiegen, mit gebrochenem Arm die Alpen überquert und einen mehr als 500 Kilometer langen Rad-Marathon gemeistert. Neben dem Sport spielen bei Verena Bentele die Themen Inklusion und Teilhabe eine große Rolle. Seit vielen Jahren setzt sie sich für ein Umdenken in der Gesellschaft und für Veränderungen in der Politik ein.
Moderator:
Was für eine Ausnahmesportlerin. Verena hat mit Anfang 40 nicht nur sportlich jede Menge erreicht, sondern auch abseits des Sports. Genau darüber möchte ich heute mit ihr sprechen in der neuen Ausgabe von inspirierenden Menschen im Berufsalltag. Ich bin Ralf Podzsus und freue mich, dass ihr heute Verena genauer kennenlernen könnt. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere auch noch an die Herzschlagfolge „Vereint durch Sport“, da habt ihr Verena schon einmal gehört. Viel mehr von ihr gibt es jetzt.
Jingle:
Herzschlag! Für ein gesundes Berufsleben, der BGW-Podcast.
Moderator:
Grüß dich, Verena. Schön, dass wir wieder miteinander sprechen.
Verena Bentele:
Hi, freut mich und danke für die Einladung.
Moderator:
Sehr gerne. Wo stehen alle deine zwölf Olympia-Goldmedaillen?
Verena Bentele:
Meine zwölf Goldmedaillen sind verteilt. Die sind zum Teil in der Vitrine. Die sind zum Teil in der Schublade. Ich hab auch irgendwelche Medaillen verliehen an Museen. Ich kriege aber nicht mehr ganz zusammen, wer alles eine hat. Dem Sport- und Olympiamuseum weiß ich noch in Köln, aber ich habe irgendwann auch mal der Deutschen Bahn glaube ich eine gegeben, aber das muss ich mal irgendwann recherchieren.
Moderator:
Ist es denn so wie mit Blu-rays oder mit Büchern, die man an Freundinnen und Freunden verleiht? Irgendwann stellt man fest, da fehlt doch was, wer hat denn das verdammt und es ist weg.
Verena Bentele:
Ja, so ungefähr.
Moderator:
Gemeinsam mit deinen beiden Brüdern bist du auf einem Bauernhof in Tettnang am Bodensee aufgewachsen. Michael ist wie du von Geburt an blind und Johannes nicht. Hat das bei euch in der Familie damals oder auch heute irgendeine Rolle gespielt und wie ist es dazu gekommen, dass zwei von drei Geschwistern blind sind? War das ein Zufall?
Verena Bentele:
Also bei uns liegt in der Familie wohl irgendein Gendefekt vor, den aber sonst niemand hat, den auch keiner kannte. In der Verwandtschaft sehen alle außer meinem einen Bruder und mir und der andere sehende Bruder hat auch drei sehende Kinder. Also genau weiß man es nicht, aber es ist irgend eine genetische Geschichte und es hat schon natürlich ne Rolle gespielt. Ich meine der älteste Bruder, der Sehende konnte natürlich beim Skifahren und Radfahren immer alleine Vorausfahren. Wir mussten immer hinter Mama und Papa herfahren, das fand ich als Kind ehrlich gesagt manchmal doof, da wäre ich auch mal gerne vorausgefahren.
Aber an sich würde ich sagen, hatten wir vor allem eine sehr gute Zeit, auch zusammen. Wir sind alle sehr dicht zusammen. Wir haben auch viel zusammen unternommen. Natürlich gerade so wo wir dann älter wurden und abends zusammen weggegangen sind, war das natürlich perfekt einen Bruder zu haben, der irgendwann einen Führerschein hatte. Wir kommen vom Land, da gab es keine U-Bahn und keine Öffis. Das war total klasse, wenn wir an den Bodensee gegangen sind abends zum Feiern, dann eben auch unseren Bruder zu haben, der uns mitgenommen hat und mit den Freunden dann dort irgendwie mit uns die Zeit verbracht hat. Das war schon sehr schön und klar wir haben natürlich auch gestritten, wie alle Kinder und Jugendlichen, aber an sich bin ich sehr froh, dass ich meine Brüder habe.
Moderator:
Nach dem Partyabend nicht Schnick-Schnack-Schnuck, wer muss fahren, Johannes muss immer fahren. Ist es dann auch so, dass der auch ab und zu zurückstecken musste, weil zwei andere blinde Kinder waren im Haushalt. Nein, wir müssen uns jetzt um die kümmern und dann ist es das berühmte Beispiel: Ach, jetzt fällt der andere da durchs Schlupfloch.
Verena Bentele:
Also ich würde schon sagen, dass der Johannes in manchen Dingen, vor allem im Praktischen, ab und zu zurückstecken musste. Wenn wir irgendwo hingegangen sind, dann klar mussten unsere Eltern uns dann auch zum Beispiel führen und gucken am Buffet, dass wir was zu essen kriegen und so weiter. Das waren Momente, wo der Johannes schon auch mal zurückstecken muss.
Andererseits hatte er auch ganz viele Privilegien. Er war unter der Woche alleine zu Hause, weil wir beide im Internat waren, hatte also die Eltern für sich. Er hat einen Schüleraustausch einige Wochen in den USA gemacht und hatte auch seine besonderen Dinge, so wie wir dann irgendwann die Sportwettkämpfe hatten. Von daher würde ich denken und hoffen, dass sich das ganz gut ausgeglichen hat. Es ist aber für Geschwisterkinder sicherlich immer eine Herausforderung mit Geschwistern mit einer Behinderung, weil natürlich die Behinderung das Familienleben, den Alltag schon ein Stück weit auch beeinflusst und bestimmt.
Moderator:
Sport ist für dich wichtig. Das liegt voll auf der Hand. Was gibt dir der Sport.
Verena Bentele:
Also mir gibt der Sport erst mal richtig viel Spaß. Ich kann da Energie rauslassen und auch positive Energie tanken. Meine Energiebilanz ist viel besser mit Sport, das ist eine wesentliche Sache. Eine andere ist aber auch, dass ich durch den Sport immer genau wusste, wo ich Fähigkeiten habe. Was ich gut kann. Was ich gerne mache. Dass ich eben auch mal gewinnen kann, dass ich in einem Wettkampf bestehen kann. Das war vor allem als Jugendliche eine ganz tolle neue Erfahrung, weil man sonst ja als Kind das nicht sieht. Ich war mit lauter sehnenden Kindern im Kindergarten, da wird man nie ausgewählt beim Ballspielen und Fangen, da ist man immer diejenige, die das alles nicht so kann.
Moderator:
Kinder sind immer so brutal.
Verena Bentele:
Kinder sind echt brutal. Beim Malen war ich natürlich auch nicht gut. Da habe ich immer eher die Erfahrung gemacht, dass ich da eben vielleicht nicht alles ganz top kann und für andere Kinder jetzt nicht die ganz perfekte Mitspielerin bin beim Ballspielen. Aber im Sport, im Langlauf, Biathlon, Judo, da hab ich eben auch Wettkämpfe, gerade beim Judo gemacht gegen sehende Kinder. Das ging super, weil da hat man sich am Kimono festgehalten. Da habe ich immer gemerkt, was die machen und konnte dann auch sehende Kinder aufs Kreuz legen. Das hat mir total gefallen. Das war einfach eine sehr positive Erfahrung, auch im Aufwachsen mal zu erkennen und zu erleben, es gibt Dinge, die kann ich richtig gut und da kann ich auch mal gewinnen und kann was vielleicht eben auch besser als andere.
Moderator:
Hat dich das ein bisschen zurückgeworfen bei den Beispielen als Letzte gewählt zu werden? Macht das irgendwie auch was mit der Psyche dann bei einem, weil man immer weiß, jetzt sitze ich ja sowieso wieder auf der Bank. Zum Einordnen du bist Ü-40, als du in der Schule warst, da waren wir noch lange nicht so weit mit der Inklusion, wie das teilweise heute schon ist. Heute ist es so ein bisschen die Leute an die Hand zu nehmen, früher war es irgendwie radikal, der Stärkste, die Stärkste gewinnt.
Verena Bentele:
Ich bin Ü-40, wie du mir das sagst, also Ralf, das ist ja so. Du bist bestimmt auch Ü-40. du bist in meinem Club.
Moderator:
Entschuldigung. Ja, klar. Wir klingen viel jünger als wir sind. Ja, wir können hier alles erzählen bei einer Audio. Wir sind eine schnuckelige 22.
Verena Bentele:
Ich glaube als Kindergartenkind ist es mir nicht immer so aufgefallen, beziehungsweise habe ich, wie es ja bei Kindern einfach ist, vieles dann auch schnell wieder irgendwie auch verarbeitet, verdrängt. Ich war in der Schule für Blinde und sehbehinderte Kinder und Jugendliche, da war ich im Internat und eben nicht zu Hause in der Schule. Deswegen war jetzt nicht gerade das Ballspielen vielleicht der Moment, wo ich das sehr gemerkt habe, dass ich eben doch andere Voraussetzungen hab als andere.
Meine Momente waren dann eher so, als Jugendliche mal in der Disco. Ich meine bitte, wer spricht ein blindes Mädchen an, das macht einfach kein Typ in dem Alter. Das waren dann glaube ich eher die Momente, wo ich gemerkt hab, die anderen fangen an mit Kajal zu experimentieren. Ich kenne inzwischen sehr viele sehende Frauen, die auch keinen Kajal hinmachen können. Ich kann es jedenfalls als jemand, die nicht sieht, nicht gescheit und lass es halt dann einfach.
Das waren schon so die Momente in der Pubertät, wo man dann einfach merkt, andere, die gehen allein einkaufen und ich muss halt Glück haben, dass eine Freundin, wenn sie für sich geschaut hat, auch mal für mich guckt. Oder ich gehe mit meiner Mutter, wo dann die Freundin danach wieder sagen „Was hat sie denn da ausgesucht?“. Das waren eher so die Momente, an die ich mich noch gut erinnern kann, dass die wirklich nicht ganz einfach waren, sich da zu finden und für sich einenn guten Weg zu entdecken.
Moderator:
Bist du im Club dann mal so angesprochen worden? Auch und dann: „Oh cool, blind und cool“.
Verena Bentele:
Eigentlich eher nicht so viel. Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich war auch wahrscheinlich nicht so ein Club-Kind. Ich war eher dann auf Konzerten, ich war eher am Bodensee draußen oder bei Sportler Partys. Da ging es dann schon besser, wenn man sich unterhalten konnte mit Leuten. Aber so im Club angesprochen werden, das hab ich jetzt eher nicht oder selten erlebt. Wenn haben die Leute immer gefragt: „Ist alles okay mit dir?“, weil ich halb geschlossene Augen schon hatte, dass sie dachten, die ist nicht mehr ganz frisch.
Moderator:
Stimmt, war da was im Drink drin? Verdammt (ironisch). Sport ist der rote Faden natürlich bei dir im Leben und auch in dieser Podcast-Folge. Wir brechen immer mal wieder aus und gehen dann auch in das persönliche. Wenn man so hört, was du schon alles gemacht hast, da wird einem schnell klar, dass keine Herausforderung groß genug sein kann. Ist es vielleicht auch die Botschaft an alle Menschen mit Behinderung, dass es eigentlich keine Grenzen gibt und man sich der Herausforderung einfach stellen muss oder setzt du jetzt mit deinen krassen Leistungen und den 150 Goldmedaillen andere Behinderte eher unter Druck.
Verena Bentele:
Also erstmal möchte ich niemanden unter Druck setzen. Es gibt ja auch ganz viele Menschen ohne Behinderung, die keine Goldmedaillen im Schrank haben. Deswegen gibt es jetzt keinen Grund für alle Menschen mit Behinderung, Goldmedaillen zu gewinnen. Ich denke eher, dass jeder Mensch besondere Dinge hat und besondere Dinge kann. Das finde ich eigentlich wichtiger. Ich möchte deswegen niemand unter Druck setzen. Was ich allerdings schön finde oder fände, ist natürlich für den einen oder die andere ein Stück weit ein Vorbild, klingt sehr groß, aber doch vielleicht ein Vorbild, eine Inspiration zu sein. Das ist schon was Positives, finde ich.
Es gibt Herausforderungen, die sind zu groß. Also ich werde sicherlich nie Grafikdesignerin, Rennfahrerin, ich werde auch nie... Ja, es gibt einfach viele Dinge, die werde ich nie machen, aber auch da relativiert sich im Leben vieles. Wenn man eben weiß, auch nicht alle Menschen, die jetzt keine Behinderung, Beeinträchtigungen haben, wie jetzt bei mir das Nicht-sehen-Können und alles machen. Wie viele Menschen trauen sich nicht mal einen ganz neuen Job anzunehmen?
Mich hat Andrea Nahles angerufen und gesagt: „Verena, willst du Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung werden?“. Nach den ersten technischen Fragen habe ich dann gefragt: „Wie lange habe ich Zeit, mir das zu überlegen?“, dann meinte die Andrea Nahles: „Ja also zwei Tage hast du schon“. Wo ich das so meinen Freundinnen erzählt habe, da haben viele gesagt: „Wie zwei Tage? Das ist eine riesen Lebensentscheidung!“, und da habe ich danach gedacht, ja, das ist auch was, was ich einfach gut kann. Ich kann mich entscheiden. Ich kann in Risikosituation gehen. Auch in neue Situationen.
Das war jetzt kein direktes Risiko, aber es war schon so, dass ich mein komplettes Leben einmal von einen auf den anderen Tag umgekrempelt habe. Das hat meines Erachtens mit dem Thema „Habe ich eine Behinderung oder nicht“ vielleicht sogar weniger zu tun, wie mit der eigenen Einschätzung. Wo sind die eigenen Fähigkeiten, Möglichkeiten,? Wo hat man vielleicht aber auch Ängste? Das hat meines Erachtens ganz viele Gründe und Hintergründe und darüber zu reflektieren und vielleicht darüber zu diskutieren, das ist für mich eine spannende Aufgabe. Die ich sehe im Zusammenhang mit Menschen mit Behinderungen.
Aber ich rede auch ganz viel mit Mädchen, Frauen, die sich vielleicht auch nicht zutrauen, sich mal für eine Führungsaufgabe zu bewerben. Auch das ist für mich ein ganz großes Thema, wo ich gerne einfach versuche, auch andere zu inspirieren. Zu sagen: „Ja, dann mache es einfach“. Du hast nicht lauter Typen um dich rum, die alles schon können. So ist es nicht im Leben. Die wirken gerne so. Aber es ist auch nicht so. Von daher glaube ich liegt ganz vieles an der Mischung, wie die eigene Persönlichkeitsstruktur ist und was man sich am Ende traut.
Moderator:
Du hast eben auch deinen Job erwähnt als Behindertenbeauftragte und ich glaube, du warst damals auch die erste echte Behinderte in diesem Job, den es schon seit Jahrzehnten gibt. Ich meine, das ist ja auch schon mal eine Sache. Da gibt es das schon seit Jahren, aber dann kommt man mal irgendwann auf die Idee, vielleicht sollte das auch einfach mal eine Behinderte machen. Dann denkt die vielleicht ein bisschen mehr an die Behindertenbelange.
Verena Bentele:
Also es war wirklich spannend, dass ich die erste Frau mit Behinderung war, die den Job hatte. Vorher waren das Menschen, die mit dem Thema mehr oder weniger zu tun hatten. Die vielleicht als Eltern von Kindern mit Behinderung oder weil sie als Abgeordnete in dem Bereich gearbeitet haben. Wie auch immer. Es gab sehr unterschiedliche Herangehensweisen, aber ich war wirklich die Erste, die selber eine Behinderung hat. Was in meinen Augen schon gut ist, weil natürlich die eigene Behinderung einen jetzt nicht umfassend zu einer Expertin und einem Experten macht. Für Authentizität und für die Vertretung auch der Belange hat es schon, finde ich, große Vorteile.
Ich glaube, wir wären auch in der Frauenbewegung zum Beispiel nicht so weit gekommen, wenn Männer ab und zu auch mal an Frauen gedacht hätten. Deswegen finde ich schon, dass es auch einen großen Mehrwert hat. Auch bei vielen, sagen wir mal jetzt mal Gremien. Zum Beispiel auch im Sport, dass da auch mal Sportler in einem Gremium sind. Es ergibt schon Sinn, dass es nicht nur Leute sind, die Funktionärskarrieren haben. Das ist für mich immer so das Ziel, dass wir wirklich auch nicht nur über, sondern auch mit den Menschen sprechen, um die es geht, die es betrifft, was ja auch die UN-Behindertenrechtskonvention möchte.
Moderator:
Das ist generell eigentlich immer ein sehr einfacher Gedanke. Nur es gibt sehr viele Mechanismen, die diesen Weg dann oft die Schranke vorsetzen. Insofern ist das ja schon ein großartiger Anfang, dass das in diese Richtung geht. Konntest du denn da was erreichen in dieser Zeit? Worauf bist du im Rückblick stolz oder was macht dich so ein bisschen zufrieden, was du zaghaft versucht hast, als erste Behinderte in diesem Amt da so durchzubringen?
Verena Bentele:
Was ich gut finde, dass ich dem Amt noch mal eine Aufmerksamkeit gebracht habe, die sicherlich höher war, als es vielleicht davor der Fall war. Ich finde gut, dass ich mich in der Überarbeitung des Behinderten-Gleichstellungs-Gesetzes für eine Schlichtungsstelle erfolgreich einsetzen konnte, an die sich Menschen mit Behinderung oder Verbände wenden können, die von der öffentlichen Hand also von Bundesbehörden diskriminiert benachteiligt werden. Das ist wirklich ein großer Erfolg und auch ein echter Erfolg. In vielen anderen Themen haben wir sicherlich ein Stück weit was bewegt, aber so ein großes Gesetz wie das Bundesteilhabegesetz, das hat auch so viele schwierige Seiten. Das würde ich jetzt nicht als mein großen Erfolg werten.
Moderator:
Du bist in der Regel alleine unterwegs. Du hast jetzt nicht immer jemanden bei dir, der dir die Tür aufhält oder sagt, „Achtung, da ist ein 110 Meter Graben vor dir“. Das geht als Blinde mal gut, mal schlecht. Fällt es dir manchmal schwer, auch auf jemanden angewiesen zu sein?
Verena Bentele:
Es gibt Situationen, da bin ich auf Menschen angewiesen. Wenn ich zum Beispiel draußen Sport mache, habe ich einen Begleitläufer, der neben mir läuft. Wir haben ein Bändel in der Hand und halten uns beide an diesem Bändel fest. Das hängt dann locker zwischen uns, dass wir beide auch die Arme bewegen können, aber dafür brauche ich jemanden. Manchmal, wenn ich auf dem Laufband stehe und draußen ist super Wetter oder morgens gute Luft, dann würde ich schon gerne draußen sein, auch alleine. Die Situation gibt es oder heute Morgen bin ich durch Berlin gelaufen. Meine ganze Straße ist gerade eine einzige Baustelle durch irgendeine Fernwärme-Leitung. In Deutschland ist ja auch üblich.
Moderator:
Die Straße kenne ich, die gibt es gerade überall in Deutschland.
Verena Bentele:
Die gibt es überall in Deutschland. Das Schöne ist, wie überall in Deutschland ist auch bei mir so, dass diese Baustelle schon Wochen und die wird auch noch Monate existieren und jeden Tag sind die Absperrungen natürlich anders. Das ist für mich ein absolutes Labyrinth und ich kann nicht mehr mit meinem normalen Timing zur U-Bahn stürmen. Ich muss jetzt langsam da durchgehen, dass ich nicht ständig irgendwo dagegen renne und mit meinen Klamotten irgendwo hängen bleibe an Bauabsperrungen. Das ist schon ein bisschen nervig. In solchen Momenten denke ich dann doch, es wird gerade ein elektrischer Blindenhunde entwickelt, wenn es den schon gäbe, wäre schon sehr praktisch. Ich glaube, was für mich schon eine Herausforderung ist, dass es einfach Situationen gibt, wo es allein schwierig ist. Zum Beispiel auch Veranstaltungen.
Da brauche ich natürlich auch Kolleg*innen, die mit mir da sind von der Arbeit, weil ich da natürlich die richtigen Personen finden möchte. Auf der Veranstaltung kann ich also nicht alleine hingehen und einfach durch den Raum schauen, wer steht gerade wo, wer unterhält sich gerade nicht oder wo will ich mich dazu stellen. Das sind zum Beispiel Momente, wo ich schon merke, da muss ich mir halt sehr viel mehr Gedanken machen und sehr viel genauer wissen, ich will Person X, Y und Z noch treffen und wenn ich die getroffen habe, kann ich gehen. Menschen, die sehen würden das anders angehen, die gehen dahin und gucken ein bisschen und dann kommt der noch entgegen und hier noch. Das sind schon Momente, da hat man einfach oder habe ich jetzt als jemand, die nicht sieht, schon Herausforderungen. Aber gut, da muss ich halt dann einfach mit ein bisschen Plan und Struktur rangehen.
Moderator:
Wenn ich mir jetzt überlege, ich gehe durch die Stadt und da gibt es wieder eine von diesen sehr vielen Baustellen, dann stellst du als Fahrradfahrer oder als Fußgänger in dem Moment dann fest, jetzt bin ich direkt vor dieser Baustelle gelaufen. Da steht nur ein Schild, Fußgänger, Fahrradfahrer verboten. Autofahrer hatten schon ein Kilometer vorher mehrere Umleitungsschilder gekriegt, aber als Fußgänger, als Fahrradfahrer wirst du halt immer direkt erst dann vor Ort damit konfrontiert. Hier geht es nicht mehr weiter, verschwinde mach dich unsichtbar. Bei dir ist es noch mal on top. Du bist blind, also wie verloren bist du dann in dem Moment, wenn gar nicht mehr an dich gedacht wird und schon gar nicht an normale Fußgänger und Fahrradfahrer?
Verena Bentele:
Also für mich ist das schon eine Herausforderung, so eine Situation. Ich möchte deswegen trotzdem nicht immer mit Leuten durch die Gegend gehen, sondern will ja auch meinen Alltag alleine meistern oder will Dinge alleine hinkriegen und will eben auch selbständig sein und selber entscheiden, wann ich wie wann wo hingehe. Aber das sind schon Momente, die sind nervig.
Wir haben in München, wo ich eigentlich wohne, eine riesen Baustelle am Bahnhof. Den Bahnhof brauche ich jede Woche mehrfach. Das ist auch jeden Tag anders. An diesem Bahnhof ist es dann auch noch schön laut. Dann stehen noch schön viele Menschen an den Engstellen, die es gibt rum. Das ist wirklich einfach für mich dann schon eine Herausforderung, wo ich auch manchmal ein bisschen genervt bin, weil ich dann gar nicht mehr durchkomme, überhaupt keine Wege freigelassen werden, auch nicht die Leitsysteme, die es für Blinde gibt. Das ist schon so ein bisschen strapaziös. Aber gut, da lernt man oder kann es als Sportlerin, im besten Fall schon, auch so ein bisschen Widerstandsfähigkeit und nicht vor lauter Frust nur noch Schokolade zu essen und zu Hause zu sitzen.
Moderator:
Du hast eben den elektrischen Blindenhund erwähnt. Das klingt interessant, was ist das und ist der besser als der normale, lebendige Hund?
Verena Bentele:
Also ich hoffe, dass die Firma da noch dran ist. Das war eine Firma aus Bayern, die da irgendwann einen Prototyp auf den Markt gebracht hat oder einen Prototyp entwickelt hat und dann Testpersonen gesucht hatte. Ich habe davon jetzt auch schon eine Weile nichts mehr gehört. Da war wirklich das Ziel eine Art Roboterhund zu entwickeln, der so vor einem herfährt und der die Hindernisse anzeigt. Ich müsste mich echt noch einmal erkundigen was daraus geworden ist, weil ich find das super. Das wäre schon extrem praktisch. Aber es gibt natürlich, die Technik macht's möglich, schon neue tolle Dinge, Apps, die schon einiges erkennen an Hindernissen und Dingen. Ich glaube, da wird in den nächsten Jahren auch viel passieren. Gerade auch mit irgendwelchen Brillen oder Handy-Apps oder so, die man draußen benutzen kann, die einen schon auch mal warnen vor dir ist ein Schild oder ein E-Scooter. Die stehen ja auch gerne mal überall mitten im Weg und werden nicht an den Rand gestellt. Was ich schon über E-Scooter gestolpert bin, das ist auch der Wahnsinn. Wenn es da eine technische Hilfe gäbe, wäre das nicht schlecht, finde ich.
Moderator:
Ja, an alle, die immer sehr merkwürdig platziert mitten auf dem Bürgersteig sehr ich-bezogen die Teile hinstellen…
Verena Bentele:
Hey, ihr seid nicht die Einzigen, die es eilig haben. Das kann ich immer nur sagen. Oben an der U-Bahn-Treppe. Ja du hast es eilig, aber du bist nicht allein, es gibt auch andere Menschen.
Moderator:
Ich sehe in diesen Dingen auch immer schon eine Absicht. Es steht sowas von krass im Weg, das ist auch eine Botschaft, also denke ich dann immer schon ganz böse, was soll das jetzt. Du hast doch eben erzählt, dass dieser elektrische Blindenhund vor einem dann fährt, bei so nicht abgesenkten Bordsteinen hat er dann ja schon auch wieder das nächste Problem, dass er gar nicht so wirklich weiterkommt.
Verena Bentele:
Der Hoppelt dann bestimmt, ich weiß es nicht. Ich werde berichten und ich komme dann wieder in irgend einen Podcast von dir und erzähle es dann, wenn ich den habe. Ich hoffe, dass der schon so ein Hoppel-Hase ist, der dann auch da drüber hüpfen kann.
Moderator:
„Es gibt auf jeden Fall noch viel zu tun“. Das war mal deine Antwort in einem anderen Interview. Das ist schon jetzt ein bisschen her. 2016 war das auf die Frage zum Thema Inklusion in Deutschland. Stichwort eben nicht abgesenkte Bordsteine, heute, bald zehn Jahre später. Gibt es da immer noch viel zu tun Verena?
Verena Bentele:
Es gibt immer noch viel zu tun, was wir jetzt gerade wirklich als VDK, jetzt bin ich ja seit 2018 Präsidentin vom Sozialverband VDK und was wir da gerade wirklich intensiv vorantreiben, ist, dass endlich die Gesetzgebung geändert wird und die privaten Anbieter von Dienstleistungen und Gütern endlich zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Das ist schon Dreh- und Angelpunkt in der Gesellschaft, um Teilhabe zu realisieren. Das wirklich Barrieren, sei es digitale Barrieren, sprachliche, bauliche und viele andere Barrieren beseitigt werden.
Damit Menschen ins Geschäft, in die Kneipe reinkommen, dann auch noch die Speisekarte oder das Angebot lesen können. Dass Menschen verstehen, wenn auf einer Homepage was angeboten wird. Wo muss ich eigentlich draufklicken, dass es die Informationen auch in einfacher oder leichter Sprache gibt, dass die digitale Barrierefreiheit hergestellt ist? Es sind so viele Bereiche, wo wir ohne Barrierefreiheit nicht weiterkommen. Das ist für mich wirklich einer der Schlüssel. Die jetzige Regierungskoalition, die Ampel-Regierung hat in ihrem Koalitionsvertrag dieses Thema sogar verankert. Das wäre jetzt eigentlich wirklich eine gute Chance, dass das endlich umgesetzt wird und da sind wir gerade sehr hinterher als VDK.
Moderator:
Was ärgert dich denn am meisten in diesem Bezug?
Verena Bentele:
Was mich am meisten ärgert, dass jetzt von Kritikern immer wieder kommt, man solle Unternehmen nicht noch mehr reglementieren, die hätten schon so viele Regeln, an die sie sich halten müssen. Ich denke immer, sowas wie Brandschutz, Arbeitssicherheit und viele andere Themen stellt auch keiner infrage. Wenn ich eben auf Barrierefreiheit achte, damit ich auch noch mehr Kundengruppen erschließen kann und das Leben für viele andere Menschen einfacher mache, sollte das eigentlich nicht sein, was in irgendeiner Weise infrage gestellt wird. Das wäre für mich ein großer Wunsch und es ist für mich ein großes Ärgernis, dass da viele immer noch so viele Fragezeichen haben, ob das jetzt auch noch sein muss, ob diese Belastung wirklich noch nötig ist.
Moderator:
Ich habe es auch schon in einigen Podcasts und Podcast-Folgen erwähnt. Da sind ja auch nicht nur in Anführungsstrichen die ganzen behinderten Menschen. Sondern es sind auch Familien, die einen Kinderwagen irgendwohin schieben müssen. Es sind auch alte Menschen, die nicht mehr so gut zu Fuß sind. Dann kann man ja auch mal eine Verletzung haben und hat mal gerade Krücken oder so. Das sind immer die Momente, wo man feststellt, der Fahrstuhl geht schon wieder nicht, dieser Bordstein ist nicht abgesenkt. Irgendwie finde ich mir nicht zurecht, weil hier alle möglichen Schilder fehlen. Ich komme mir immer vor, wir haben in den letzten 25 Jahren eigentlich noch nichts groß gemacht. Ist das so mein Gefühl oder teilst du das?
Verena Bentele:
Ich würde mal sagen, dass wir Dinge gemacht haben, aber wir sind eben gerade in diesem Thema der umfassenden Barrierefreiheit nicht wirklich weitergekommen, weil da immer von staatlicher Seite, der Mut und der Wille zur Regelung gefehlt hat. Die harte Regelung ist in dem Fall einfach zwingend und wichtig. Wir sehen es zum Beispiel in den USA, wo man Barrierefreiheit einklagen kann. Als unzulässige Diskriminierung kann man gegen vorhandene Barrieren klagen. Dann hat das halt zur Folge, dass gewisse Handyhersteller von Anfang an in ihrem Telefon programmiert haben. Dass dieses Telefon auch eine veränderte Bedienung hat. Dass es sprechen kann. Dass man es anders benutzen muss, wenn man nicht sieht. Das ist schon ein großer Vorteil.
Also ich will jetzt hier keine Werbung machen und in den USA gibt es viele andere Dinge die nicht gut laufen. Aber das ist schon einfach was woran man sieht, wenn von Anfang an alle daran mehr mitdenken, dann wird das Lebensstück einfacher. Also wenn ich im Moment versuche, mir eine Waschmaschine zu kaufen, ist es absolut schwierig, weil wir eigentlich kaum noch Geräte haben, die nicht irgendwo mit Touch-Knöpfen funktionieren. Die ich mir dann wieder irgendwie mit Aufklebern markieren muss, damit ich sie überhaupt finde, damit ich die Zeitspartaste finde oder andere Dinge. Das ist schon nervig. Da denke ich immer, heute gibt es so einfache Möglichkeiten mit einem Mini-Chip, der sprechen kann, mit einer App mit der man das Gerät bedienen kann, was weiß ich. Dass diese Möglichkeiten einfach nicht genutzt werden, das finde ich schon ehrlicherweise ziemlich bitter.
Moderator:
Dann hast du eine Touchscreen-Waschmaschine, die du nicht wirklich erkennst. Dann fliegt die auch immer noch wie blöd und sagt nun mache mich doch mal endlich aus, verdammt.
Verena Bentele:
Ich habe sie halt beklebt. Das ist echt ein Punkt und ich habe jetzt zum Beispiel für den Kaffee so einen ganz tollen italienischen Siebträger. Da sagen zwar manche Freunde, dafür verbrennst du dir die Finger, was ich aber eigentlich nie mache, weil ich kann den gut bedienen, weil der wird sehr heiß, der Brüh-Kopf. Es ist aber kein Vollautomat, der ständig gereinigt werden will, mir aber nicht sagt, was genau er will. Ich hatte auch Vollautomaten früher schon, kannst du vergessen. Da kannst du als jemand, der nicht sieht oder die nicht sieht selber reinigen. Das finde ich total nervig, wenn ich das nicht entkalken kann, das Ding und dafür immer wenn Freunde oder mein Freund oder irgendwer da sind, sagen muss: „Oh übrigens, wir hätten ja noch was zu tun, setze mal die Kaffeemaschine morgens bevor du dein Frühstück kriegst“.
Moderator:
Übrigens, dein Kaffee ist auch schon vorher schwarz mit dem Wasser. Da sollte man mal langsam wieder…
Verena Bentele:
Ja ich bringe dir den Kaffee ans Bett, aber vorher musst du die Maschine entkalken.
Moderator:
Ich setze mal kurz bei deinem Kaffee vorher eine FFP2-Maske auf, sicher ist das auf jeden Fall. In der eigenen Wohnung hat man dann schon Fallen, weil einfach Technik oder Geräte nicht so hergestellt werden mit dem Blick für alle Menschen.
Verena Bentele:
Genau, das ist eine Herausforderung. Das ist ja auch für ältere Menschen schwierig. Wenn heute ein Herd nur noch mit Touchscreen funktioniert, ist es ja auch für ältere Menschen, die vielleicht nicht mehr motorisch das so ganz genau steuern können, auch extrem schwierig. Ich würde mir einfach die Regelung wünschen vom Gesetzgeber, damit hier alle Menschen mitgenommen werden und immer Lösungen mitgedacht werden, die man eben individuell auch einstellen und individuell nutzen kann.
Moderator:
Ist das auch so ein Argument, die alten Menschen, weil die sind in der Überzahl in Deutschland. Das ist eine große Lobby, da muss man immer an die denken, das hat ja auch was mit Macht zu tun. Oh, die Alten nicht vergessen, sonst haben wir da ein Problem, politisch oder auch beim Verkauf von Sachen. Jetzt als Präsidentin des größten deutschen Sozialverbands kann man immer ganz gut mit argumentieren. Guck mal, auch die Alten haben ein Nachsehen, wenn der Bordstein nicht abgesenkt ist. Wenn die Geräte dann so ein Touch-Display haben, hilft das so ein bisschen. Ist es dann auch ärgerlich, wenn man in so eine andere Zielgruppe reinrutschen muss, weil die eigentliche Zielgruppe die behinderten Menschen nicht so wahrgenommen wird?
Verena Bentele:
Für mich sind alle Menschen, die Barrierefreiheit brauchen, eigentlich ja irgendwie auch eine Zielgruppe und das versuchen wir im VDK mit über 2,2 Millionen Mitgliedern schon immer auch zu spielen. Dass wir, wie du es vorher auch schon gesagt hattest, sagen bei den Aufzügen am Bahnsteig ist es auch für die Mutter und den Vater mit dem Kinderwagen gut. Für Leute mit schwerem Koffer, mit Sportgepäck. Die jungen, fitten Snowboardfahrer sind auch froh, wenn sie vielleicht einen Aufzug haben wenn sie eine Tasche und zwei Snowboards tragen müssen. Genauso eben auch ältere Menschen.
Wir hatten im VDK einmal eine Kampagne „Weg mit den Barrieren“, wo unsere Mitglieder in ihren Heimatgemeinden auf Barrieren aufmerksam gemacht haben. Das haben unsere Leute geliebt, dass sie ihrem Bürgermeister, ihrer Landrätin sagen konnten in ihrem Landratsamt, in ihrem Stadthaus gibt es nur Treppen, da kommt jemand mit einem Rollstuhl, Rollator, Kinderwagen überhaupt nicht rein. Dann wurden da vor Ort Lösungen gefunden. Das war eine ganz tolle Aktion, die mir auch gezeigt hat, dass dieses Thema Barrierefreiheit schon sehr viele Menschen betrifft. Im Übrigen zum Beispiel sowas wie Pflastersteine oder echt schäbige Gehweg hier Berlin betrifft auch Frauen mit Absätzen, die permanent irgendwo hängen bleiben und sich jeden Absatz zerstören. Was ich mir in Berlin Absätze zerstört habe, das ist auch der Wahnsinn. Von daher haben da sehr viele Gruppen was davon, wenn Barrierefreiheit hergestellt ist.
Moderator:
Wenn wir über Inklusion sprechen, dann geht uns das ja alle etwas an, ganz unabhängig von der Politik oder auch den Medien. Was kann jetzt jeder und jeder einzelne von uns tun?
Verena Bentele:
Alle können aufmerksam sein und können sich für das Thema interessieren, informieren und vielleicht auch engagieren. Das würde ich sagen, weil Inklusion ist ein Thema, das nicht nur den Menschen hilft, die im Moment drauf angewiesen sind, sondern für alle Menschen eben was Wichtiges und Nützliches ist. Zum Beispiel hat auch viel damit zu tun, wie beschäftige ich mich eigentlich mit einer Gesellschaft, die sehr unterschiedlich ist. Wo Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben. Wo es vielleicht auch mal gut ist, jemanden zu fragen: „Brauchst du Hilfe?“. Das sind alles für mich wichtige Dinge, wo jeder und jeder einen Beitrag zu leisten können.
Moderator:
Das ist ja in anderen Ländern schon lange in den Köpfen so vereint. Man bietet gleich seine Hilfe an. Da ist jemand, der kann die Treppe nicht steigen. Man merkt er oder die kann nicht sehen. Wie kann man diesen Knoten in der deutschen Gesellschaft lösen, das hier auch mehr so der Blick für die anderen da ist und man eben einfach Hilfe anbietet? Das kommt ja nicht nervig an, wenn du halt mehrfach am Tag sagst: „Nein danke, ich brauche gerade keine Hilfe“, es ist nur schöner wenn man gefragt wird.
Verena Bentele:
Was für mich das zentrale Thema ist, wirklich mehr Berührungspunkte zu schaffen in der Kita, in der Schule, in der Ausbildung, in der Arbeit, im Sportverein, im Musikverein. In allen gesellschaftlichen Bereichen müssen sich Menschen eben mehr kennenlernen. Meine Freunde natürlich aus dem Studium oder aus anderen Bereichen aus dem Sport, wie auch immer, wenn die jetzt jemanden sehen, der nicht sieht oder wie auch immer, dann wissen sie, ich frage die Person, ob sie Hilfe braucht, aber fasse sie nicht einfach an.
Das habe ich denen so oft erklärt, wie ich das nicht mag, wenn mich Menschen einfach anfassen, mich am Arm packen, weil sie sehen, da stürmt eine Frau auf die Rolltreppe oder auf die Treppe zu. Ich habe es meistens eilig, ich renne halt immer auf die Treppe zu und habe es aber auch im Griff. Dann wollen Leute mich immer fangen, aufhalten und packen mich am Arm und schreien: „STOP!“. Ich denke immer um Gottes Willen, es ist eine Baugrube, aber sie meinen einfach nur eine Treppe. Da denke ich immer ja das ist jetzt so eine Art zu helfen, weiß es ist alles Unsicherheit. Ich weiß, da muss man dann ganz geduldig sein. Wenn man Zeit hätte, müsste man den Leuten dann fünf Minuten erklären, wie sie es richtig machen, mache ich auch manchmal. Aber im Grunde genommen könnten wir das gesellschaftliche Thema nur so lösen, in dem es einfach mehr gemeinsamen Erfahrungshorizont gibt.
Moderator:
Ja, und wie machen wir das? Das muss ja irgendwo anfangen. Das sind natürlich die Eltern, die es ihren Kindern beibringen müssen. Wie kann man die erreichen, dass die daran auch denken oder auch die Schule? Wenn du da mit Lehrerinnen und Lehrern sprichst, dann sagen die ganz gerne immer, das ist so meine Erfahrung, daran können wir nicht auch noch denken, das können wir nicht auch noch übernehmen und machen. Die Politik, die sagt auch, jetzt haben wir erstmal Wichtigeres. Wo setzt man denn da an, dass das einmal in die richtigen Köpfe der deutschen Halt geht, denkt mal an alle?
Verena Bentele:
Also ein zentrales Thema ist eben wirklich, dass es diese Berührungspunkte gibt. Dass die Kinder und Jugendlichen in einem Verein Sport treiben. Dass sie eben auch gemeinsam im Kindergarten in der Schule sind. Deswegen finde ich auch die inklusive Beschulung so ein zentrales Thema. Dass auch Eltern sich doch die Mühe machen, es ihren Kindern zu erklären. Ich freue mich immer, wenn ich irgendwo mit einem Stöckchen entlang gehe und dann jemandem seinem Kind, wenn die Kinder dann rufen: „Warum hat die einen Stock“, und die Eltern nicht sagen „Pssh!“, sondern wenn die dann sagen: „Guck mal, die kann nicht gucken, aber mit dem Stock kann sie alles fühlen“. Das freut mich dann immer, dann rufe ich immer den Eltern zu, Dankeschön, erklärt, kannst du wieder so machen. Ich bestärke die dann und sage ihnen immer, das war gut. Oder wenn ich Zeit habe und sie wirklich das komisch erklären, dann bleibe ich auch stehen und sag, na ich kann euch ein bisschen helfen, aber ich glaube eben wirklich eine Offenheit.
Wenn es jetzt nicht um Kinder und Jugendliche geht. Was ich Erwachsenen immer rate, stelle einfach Fragen wenn du jemanden triffst und dir nicht sicher bist, braucht die Person Hilfe. Frag sie besser. Hilf nicht einfach. Wenn du im Zug neben ihnen sitzt. Es gibt Leute, die haben Bock auf reden, mit denen kann man dann darüber diskutieren. Andere vielleicht auch nicht, dann klar muss man sie auch in Ruhe lassen, aber da sind ja Menschen mit Behinderung, genau wie alle anderen auch. Da muss man einfach ein bisschen schauen, habe ich jetzt gerade jemand mit dem ich da einfach auch mal reden kann. Dann ist Fragen stellen für mich immer was, was ich nicht verkehrt finde. Was ich immer nicht so mag, dass die Leute immer so komische Vorurteile haben. Ich werde so oft gefragt, ob ich irgend wessen Gesicht anfassen möchte. Wo ich immer denke, um Gottes Willen, was denkt ihr euch eigentlich?
Moderator:
Warum?
Verena Bentele:
Ja eben, weil es in Filmen früher irgendwie so war, das Blinde immer irgendwie das Gesicht angefasst haben. Stell dir das mal vor, ich meine, ich würde durch die Gegend gehen und bei jedem erst mal sagen: „Sorry; darf ich mal an dein Näschen?“.
Moderator:
Warum? Von 1925 oder so? Doktor Mabuse, der hat glaube ich in so Gesichter gegrätscht. Der war auch irgendwie so ein Blinder, der war ganz spooky.
Verena Bentele:
Ja, also es ist für mich aber auch ein bisschen interessant und da denke ich immer, frage einfach. Wie stellst du dir mich vor oder wie stellst du dir generell Menschen vor, was ist für dich wichtig? Ich finde das kann man ja erfragen, das würde ich mir mehr wünschen.
Moderator:
Ja, ist ein bisschen typisch Deutsch. „Nicht sagen, die ist blind“, um es mit den Worten von Ronan Keating zu sagen. Ja, ich zitiere jetzt tatsächlich Ronan Keating.
Verena Bentele:
Ronan Keating. Alter Roman.
Moderator:
Ich war auch schon einmal im Hamburger Stadtpark auf einem Konzert von ihm. Wir haben über unser Alter vorhin ja schon einmal geredet, lang, lang ist es her. Ronan singt: „Life is a Rollercoaster“. Es gibt jetzt nicht nur Hochs, sondern auch Tiefs. 2009, da hattest du einen schweren Unfall bei den Deutschen Meisterschaften im Langlauf. Kreuzbandriss, Leber und Niere waren verletzt. Das hat körperlich und auch mental dir einiges abverlangt. Ganz viel Kraft hat es gekostet. Wie hast du es geschafft, dich nach so einem Unfall wieder zurückzuholen, Verena?
Verena Bentele:
Ich habe jetzt erstmal den schweren Ohrwurm von Ronan Keating im Ohr, aber Ok.
Moderator:
Mit Absicht. Natürlich ja.
Verena Bentele:
Wie habe ich das geschafft? Erst einmal musste ich schauen, dass ich wieder gesund und fit werde. Das hat zum Glück geklappt durch die Klinik, in der ich war, durch gute Pflege danach von meinen Eltern und Physiotherapeuten und so weiter. Irgendwann wurde ich dann unleidig, dann haben meine Eltern auch gesagt, das ist mal gut, wenn du wieder nach München gehst und wieder ein bisschen Sport machst, weil du so viel Energie aufgetankt hast jetzt. Das ist jetzt auch mal besser, wenn du dich wieder los wirst. Das konnte ich auch verstehen, weil ich nach 4-5 Wochen rumliegen echt unleidig wurde, irgendwann weil ich das nicht so mag, nichts machen zu können.
Moderator:
Und immer auf diese Goldmedaillen schauen, auf die 300, und zu wissen, ich bin eigentlich sonst aktiver.
Verena Bentele:
Ich bin eigentlich aktiv und schnell, na ja, genau, und dann bin ich erst mal in den Sport eingestiegen. Natürlich mit Physiotherapie und dann mit langsamen Geschichten und sicheren Geschichten wie zum Beispiel Fahrradfahren mit dem Tandem oder Joggen mit dem Bändel. Erst im Juni, im Januar war der Unfall, dann im Juni, war ich es erstmal wieder auf Skiern gestanden auf Roll-Ski, das sind so kurze Ski mit Rädern. Ich bin dann erstmal wieder wirklich alleine durch die Gegend gefahren und hatte wieder diese gleiche Bewegung wie beim Langlaufen, wo der Unfall passiert ist und bin da eben wirklich ganz langsam erstmal den Berg runter gefahren.
Ich habe meinen Begleitläufer damals gesagt, du musst mich an die Hand nehmen, ich kann das noch nicht alleine damit ich erstmal merke, dass es klappt und dass sich die Geschwindigkeit aushalte. Ich habe mich dann wirklich langsam ran gearbeitet und hatte vor allem ein Ziel. Also das war, glaube ich, auch am Anfang ein ganz, ganz wichtiges Element, das ich auch unbedingt diese Überwindung wollte und nicht mich in diese Ängste begeben wollte. Das wäre für mich auch kein schönes Ende meiner Karriere gewesen. Mit einem Skiunfall, mit einem Abflug den Berg runter aufzuhören und nicht mit irgendetwas positivem nach so vielen Jahren positivem Sport.
Moderator:
Jetzt habe ich für dich noch ein paar Sätze mitgebracht, die du gerne spontan vervollständigen kannst. Unser Spiel „Sätze vervollständigen“ bist du bereit, Verena?
Verena Bentele:
Ich bin bereit. Das Lustige ist, deswegen lach ich gerade, ich mach das selber in meinem Podcast auch haha.
Moderator:
Erwähne auch mal deinen Podcast. Wo kann man dich regelmäßig hören?
Verena Bentele:
Genau. Mein Podcast heißt „In guter Gesellschaft“, den kann man überall abonnieren, wo es Podcasts gibt. Da gibt es auch ganz tolle Folgen mit tollen Gästen und auch da machen wir das so, dass die Kandidatinnen und Kandidaten dann oder die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, ich komm deswegen auf Kandidaten, weil die letzten waren oder vorletzten waren die Europawahlkandidatinnen Katharina Barley und hier aus Berlin Hildegard Bentele, meine Großcousine und CDU Abgeordnete im Europaparlament. Die hatten wir dann interviewt, die beiden und die ganzen Podcast-Gästinnen und Gästen bei uns müssen das auch machen mit den fünf Sätzen und genau sind dann mit mir in guter Gesellschaft.
Moderator:
Da bin ich mal gespannt, wer jetzt die besseren Sätze in welchem Podcast hat. Also ich leg mal los.
Wenn ich mich für eine Sportart entscheiden müsste, dann wäre das…
Verena Bentele:
…In jedem Fall laufen, weil das so unkompliziert ist, man einfach Turnschuhe und ein T-Shirt und eine Hose braucht und losrennen kann.
Moderator:
Mein nächstes großes Ziel ist…
Verena Bentele:
…Der Mauerlauf der hat insgesamt 160 Kilometer, ich laufe davon aber nur 56 Kilometer, ist für mich schon eine sehr lange Strecke, weil bisher Marathon meine längste Strecke war mit 42 Kilometern; und jetzt lauf ich das erste Mal 56 Kilometer.
Moderator:
Um Gottes willen, ich bin immer froh, wenn ich schon von meiner Wohnzimmercouch es schaffe, in die Küche zu kriechen, aber dann viel Freude.
Jeder und jede von uns sollte einmal seine Komfortzone verlassen, weil…
Verena Bentele:
…Es einfach ein super schönes Erlebnis ist, dass man sich selbst schenken kann, wenn man einmal etwas richtig besonderes macht und Glücksgefühle hat. Wenn man etwas geschafft hat.
Moderator:
Gleichberechtigung bedeutet für mich….
Verena Bentele:
…Dass Männer und Frauen für die gleiche Arbeit das gleiche Geld kriegen, dass Menschen mit Behinderung keine Barrieren haben und an der Gesellschaft teilhaben können und dass alle von uns ihre Chancen auf Bildung und Teilhabe perfekt nutzen können.
Moderator:
Wenn ich ein Gesetz erlassen könnte, dann wäre das…
Verena Bentele:
Ganz schnell die Anpassung des Behinderten-Gleichstellungs-Gesetzes und auch des allgemeinen Gleichbehandlungs-Gesetzes, damit endlich private Anbieter verpflichtet sind, angemessene Vorkehrungen herzustellen für Barrierefreiheit.
Moderator:
Am meisten freue ich mich, als Blinde unterwegs auf dem Bürgersteig im Straßenverkehr…
Verena Bentele:
…Wenn ich keine Hindernisse vor mir habe, wenn keine E-Scooter immer im Weg stehen oder liegen, wenn ich nirgends irgendwo ein Fahrrad quer habe und wenn Autos nicht auf dem Bürgersteig stehen, sondern am besten auf der Straße fahren oder gar nicht in der Nähe sind.
Moderator:
Es gibt Geriffelte Fußplatten auf Bürgersteigen für Blindenstöcke und akustische Ampelsignale für Grün und Rot. Was fehlt für Blinde noch alles in unserer Gesellschaft? Ja schon bei dem normalen Verlassen des Hauses. Was wünscht du dir da?...
Verena Bentele:
…Ich wünsche mir, dass es mehr Möglichkeiten gibt, sich zu orientieren. Zum Beispiel, indem es Leitsysteme auf dem Boden gibt, indem vielleicht auch mehr beschriftet ist mit Brailleschrift, also sei es irgendwie am Bahnsteig, am Geländer. Wenn es zum Bahnsteig runtergeht oder hoch am Geländer eine Markierung, dass man lesen kann, welcher Bahnsteig ist hier? Ich wünsche mir, dass es Möglichkeiten gibt im Einkaufsladen wirklich immer an einer Stelle des Produkts den QR-Code zu finden, dass man den einscannen kann mit dem Handy und dann weiß was ist es für ein Produkt, was ist drin und was kostet es. Also auch diese Dinge wären extrem einfach um das Leben noch unabhängiger zu gestalten.
Moderator:
Auch sehr interessant. Nehmt das gerne mal mit ihr Entscheiderinnen und Entscheider, wenn ihr diese Podcast-Folge hört. Es sind ja leicht umsetzbare Dinge und ich wünsch mir im Supermarkt einfach auch mal, dass eine zweite Kasse aufmacht, aber das ist ein ganz anderes Thema.
Verena, vielen Dank für deinen heutigen Besuch. Ich denke es macht viel Mut, was man alles erreichen kann, wenn man den Willen dazu hat und die richtigen Menschen um sich herum auch hat. Vielen Dank, dass für dich heute ein bisschen näher kennenlernen durften. Danke auch für Deine intimen Einblicke aus der Kindheit.
Verena Bentele:
Danke für die Einladung und das schöne Gespräch. Natürlich hast du in deinem Podcast die schönsten Sätze, weil die kommen ja von mir, nein Spaß. Mir hat es auf jeden Fall viel Spaß gemacht und ich habe für mich auf jeden Fall auch viel mitgenommen und werde auch für meinen Podcast daraus was mitnehmen. Dankeschön.
Moderator:
Du hast recht. Am Anfang der Folge habe ich ja schon kurz erwähnt, Verena war bereits in einer Folge zu Gast und die findet ihr, wie auch alle anderen Folgen, in denen ich mit inspirierenden Menschen aus dem Berufsalltag gesprochen habe, einfach mal reinklicken auf: www.bgw-online.de/podcast und natürlich gibt es diesen Podcast überall dort, wo es Podcasts gibt. Wenn euch die Folge gefallen hat, dann lasst gerne eine Bewertungda und ihr könnt uns natürlich auch jederzeit gerne weiterempfehlen, bis zum nächsten Mal.
Jingle:
Herzschlag! Für ein gesundes Berufsleben, der BGW-Podcast.
Interviewgast
Verena Bentele
Ehem. Spitzensportlerin (Langlauf und Biathlon)
Keynote Speakerin und Weltbehindertensportlerin
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