
Leichter, als viele denken BGW magazin - 3/2023
Seit zehn Jahren werden im Arbeitsschutzgesetz ausdrücklich auch psychische Belastungen als Thema für die Gefährdungsbeurteilung genannt. Immer noch bereitet das manchen für den Arbeitsschutz Verantwortlichen Kopfzerbrechen. Muss es aber nicht.
Niemand soll bei der Arbeit körperlich oder seelisch so belastet werden, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen entstehen können. Das ist das grundlegende Ziel des Arbeitsschutzgesetzes – und der Hintergrund der dort festgeschriebenen Pflicht zur Gefährdungsbeurteilung. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber haben die Gefahren für ihre entgeltlich und unentgeltlich Beschäftigten einzuschätzen und geeignete Schutzmaßnahmen vorzunehmen – damit möglichst nichts der Gesundheit schadet. Dabei stehen psychische Belastungen gleichrangig neben körperlichen.
Psychische Belastungen
Im Stressreport Deutschland führt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit (BAuA) auf, was beispielsweise für Gesundheitsberufe schwerwiegende psychische Belastungen sein können:

Psychische Belastungen – ein wichtiges Thema für die Gefährdungsbeurteilung
- gleichzeitiges Betreuen verschiedenartiger Arbeiten
- starker Termin- oder Leistungsdruck
- Störungen und Unterbrechungen bei der Arbeit
- sehr schnelles Arbeiten - Arbeiten an der Grenze der Leistungsfähigkeit
- gefühlsmäßig belastende Situationen
- Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienste
- zunehmender Stress – mengenmäßige Überforderung
- körperliche und emotionale Erschöpfung
Die Arbeit ist aber nicht nur eine Last. Sie bietet auch viele Ressourcen. So kann beispielsweise ein gutes Team manche Belastung ausgleichen. Auch eine sinnhafte Tätigkeit stellt eine Ressource dar, ebenso empfundene Wertschätzung, eine gute Arbeitsorganisation, ein freundlicher Umgangston, ein verlässlicher Dienstplan. Gerade der Dienstplan entpuppt sich vielfach als Stellschraube, mit der man das Betriebsklima justieren kann.
Psychische Belastungen sind oft leichter zu ermitteln, als viele meinen. Einige lassen sich einfach mit gesundem Menschenverstand erschließen. Andere treten zutage, wenn man die Beschäftigten befragt. Anfangen kann man mit den Aspekten, die bereits als Belastung bekannt sind. Dann ist schon ein wichtiger Schritt getan.
Wie das Überqueren einer Straße
Generell gilt für die Gefährdungsbeurteilung: Sie ist vom Prinzip her so einfach wie das Überqueren einer Straße: Man steht an der Bordsteinkante und will auf die andere Seite. Man schaut links, rechts, nochmal links. Es kommt ein Fahrzeug. Was nun? Man schätzt ein, ob man eher drüben ist oder es brenzlig wird. Das hängt vom Tempo und von der Distanz ab, wie auch noch von anderen Faktoren, zum Beispiel der eigenen Beweglichkeit oder Gebrechlichkeit.
Dann entscheidet man: losgehen oder warten. Je nach Situation kann das eine oder das andere richtig sein. Manchmal sind auch noch zusätzliche Maßnahmen erforderlich: Wer ein Kleinkind dabei hat, nimmt es vielleicht auf den Arm. Auf der anderen Seite angekommen, weiß man: Es hat geklappt. Wer problemlos rübergekommen ist, hat richtig entschieden und gehandelt. Wer es mit Ach und Krach noch geschafft hat, überdenkt das Vorgehen besser nochmal für die nächste Situation.
Ähnlich funktioniert die Gefährdungsbeurteilung. Sie lässt sich in sieben Schritte unterteilen:
Liste: Sieben Schritte der Gefährdungsbeurteilung
Arbeitsbereiche und Tätigkeiten festlegen
Gefährungen ermitteln
Gefährdungen beurteilen
Maßnahmen festlegen
Maßnahmen durchführen
Wirksamkeit überprüfen
Gefährdungsbeurteilung fortschreiben
Wichtig ist auch, die Gefährdungsbeurteilung zu dokumentieren. Das ist gesetzlich vorgeschrieben und für die Rechtssicherheit unerlässlich. Wer zu den einzelnen Schritten schriftliche Unterlagen parat hat, kann auch jederzeit prüfen, ob der Prozess richtig durchgeführt und nichts vergessen wurde.
Die Beschäftigten sollten als Fachleute in eigener Sache in die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung einbezogen werden.
Gemeinsam voran
Auch wenn der Arbeitgeber oder die Arbeitgeberin für die Gefährdungsbeurteilung verantwortlich ist, empfiehlt es sich, Fachleute und die Beschäftigten in den Prozess einzubeziehen. So gehört beispielsweise das Mitwirken an der Gefährdungsbeurteilung zur regulären betriebsärztlichen und sicherheitstechnischen Betreuung. In Unternehmen ab 20 Beschäftigten muss darüber hinaus ein Arbeitsschutzausschuss (ASA) gebildet werden, der mindestens vierteljährlich Anliegen des Arbeitsschutzes und der Unfallverhütung berät.
Wie sich der Arbeitsschutzausschuss (ASA) zusammensetzt
Es bietet sich an, im ASA die sieben Schritte der Gefährdungsbeurteilung zu koordinieren. Auch jenseits dieses Gremiums beziehungsweise in kleineren Betrieben sollten die Beschäftigten in die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung als Fachleute in eigener Sache einbezogen werden. Man kann sich zum Beispiel in Teamsitzungen oder Einzelgesprächen nach ihren Erfahrungen und Einschätzungen erkundigen oder Befragungen durchführen.
Beispiel: Pausen für alle
Den Kern der Gefährdungsbeurteilung bilden die aus der Analyse abgeleiteten Schutzmaßnahmen. Schließlich geht es letztlich nicht um das Ausfüllen von Dokumentationsbögen, sondern um das gesunde und sichere Arbeiten im Betrieb. In einer Einrichtung hat sich zum Beispiel das Team zusammengesetzt, um ein auch psychisch belastendes Problem vor Ort zu lösen. Die Frage lautet: Wie schaffen wir es, dass bei uns alle eine Pause nehmen können? Das Team trägt zunächst alle Ideen unkommentiert zusammen. Im nächsten Schritt werden diese Ideen diskutiert und ausgewählt:
- Unterstützung durch Leitung
- zwei feste Pausenzeiten mit Gruppenwechsel
- Tür zum Pausenraum bleibt zu
- Pausenschild an die Tür hängen
- Ansprechperson für Anfragen auf eine Tafel schreiben
- Arbeits- und Pausenraum trennen
Gestaltungsbereiche zur Vermeidung von Gefährdungen durch psychische Belastungen
zum Beispiel Handlungsspielräume, Infomationen, Qualifikation, emotionale Inanspruchnahme
zum Beispiel Arbeitsintensität, Störungen/Unterbrechungen, Zuständigkeiten, Kommunikation und Kooperation
zum Bespiel Dauer, Schichtarbeit, Erholungszeiten, Planbarkeit
mit Kolleginnen und Kollegen wie mit Vorgesetzten
zum Beispiel Eignung, Zustand, Bedienbarkeit, persönliche Schutzausrichtung
zum Beispiel Faktoren wie Lärm, Klima, Luftqualität oder Ergonomie am Arbeitsplatz
Extras mit Effekt
Ergänzend zu den Schutzmaßnahmen im Betrieb machen manche Unternehmen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesundheitsfördernde Angebote, die in der Freizeit wahrgenommen werden können – zum Beispiel Sportkurse oder Beratungsmöglichkeiten bei finanziellen, familiären oder anderweitigen privaten Problemen.
Das gehört zwar nicht zum Pflichtprogramm des betrieblichen Arbeitsschutzes, wirkt sich aber positiv auf die Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Motivation der Beschäftigten aus. So lassen sich Fachkräfte binden und das Image des Betriebs als guter Arbeitgeber fördern.
Fazit: Anfangen und dranbleiben
Die Gefährdungsbeurteilung ist und bleibt ein Prozess mit dem Ziel der stetigen Verbesserung der Situation vor Ort – auch im Hinblick auf psychische Belastungen. Deshalb lautet die Devise: anfangen und dranbleiben. Hat man den Bogen erst einmal raus, lohnt es sich, die Abläufe und gebildeten Strukturen zu verstetigen und zu fördern – und dafür entsprechende Zeit einzuräumen. Was man so angeht, wird Erfolg bringen. Dann reicht der Elan nicht nur über die Straße, sondern noch viel weiter.
Von: Anne Kissling