Ein Mann telefoniert.

Eine Sprache für die persönliche Krisensituation finden BGW magazin - 3/2021

Die telefonische Krisenberatung ist ein Angebot der BGW in der Corona-Pandemie. Sie soll Versicherten helfen, persönliche Herausforderungen zu bewältigen, die sie derzeit im beruflichen Zusammenhang erleben. Oft hilft es schon, mit dem Blick von außen die eigene Situation neu zu bewerten. Ein Gespräch mit Psychotherapeutin Felicitas Palzer.

Mit welchen Anliegen kommen die Menschen in die telefonische Krisenberatung?

Der Kreis der Ratsuchenden ist sehr heterogen. In der ersten Pandemiephase hatte ich oft mit Pflegenden, auch in Leitungsposition, sowie mit Friseurinnen und Friseuren zu tun. Es ging beispielsweise um die Angst, sich selbst oder Angehörige zu infizieren, um Überforderung mit der Situation, um den beruflichen Umgang mit Menschen, die sich nicht an Schutzmaßnahmen hielten. Andere gerieten mit ihrem Unternehmen in eine finanzielle Notlage oder mussten plötzlich Infektionsschutzauflagen erfüllen, die sie als sehr unübersichtlich empfanden.

In der ersten Pandemiephase hatte ich oft mit Pflegenden, auch in Leitungspositionen, sowie mit Friseurinnen und Friseuren zu tun.

Porträt: Felicitas Palzer
Felicitas Palzer, Psychotherapeutin, München


Inzwischen kommen vermehrt Beschäftigte aus der Krankenpflege zur telefonischen Krisenberatung. Bei ihnen geht es häufig um eine extreme Arbeitsbelastung und Erschöpfung.

Manche – egal aus welchem Bereich oder in welcher Position – fragen sich auch, wie sie ihren beruflichen Auftrag oder eigenen Anspruch unter Pandemiebedingungen überhaupt noch erfüllen können. Wer viel mit anderen Menschen arbeitet, bekommt das besonders zu spüren.

Wo setzt die Krisenberatung an?

Eine große Bedeutung hat allein schon der soziale Kontakt – jemanden zu haben, der unvoreingenommen zuhört. Natürlich geht es auch darum, Handlungsmöglichkeiten für die Ratsuchenden aufzuzeigen. 

Bis zu fünf Gesprächstermine à 50 Minuten sind möglich – oft reicht sogar weniger. Viele sind in ihren Berufen sehr gewissenhaft und wollen alles bestmöglich erledigen. Sie müssen lernen, Prioritäten zu setzen – und dazu gehört, selbst Kraft zu schöpfen. Die eigene Situation mit jemandem „von außen“ zu besprechen, kann einen wichtigen Anstoß geben. Die Krisenberatung zeichnet sich dadurch aus, dass wir nicht auf pauschale Tipps verweisen, sondern sie unmittelbar auf den konkreten Fall herunterbrechen. Also nicht nur „Reden Sie mit anderen, suchen Sie Unterstützung!“, sondern „Mit wem können Sie sprechen? Wann? Wie können Sie das angehen, was sagen Sie?“. 

Stoßen Sie dabei auch an Grenzen?

Das kommt auf den Fall an. Manchmal ist es eher so, dass man nicht alle Aspekte bearbeiten kann. Beispielsweise, wenn jemand eigentlich nicht arbeitsfähig ist. Dann ist mein Rat, sich krankschreiben zu lassen, um Abstand zu gewinnen. Aus der akuten Situation heraus ist es in der Regel nicht möglich, Entscheidungen von großer Tragweite zu treffen, wie „Kann ich meine Tätigkeit überhaupt weiter ausüben?“. Vielleicht bereiten wir aber ein Gespräch mit den Vorgesetzten vor, unter welchen Rahmenbedingungen sich jemand noch einbringen kann.

Eine Erkenntnis für die Ratsuchenden kann auch sein, dass es Situationen gibt, die sich nicht unmittelbar ändern lassen. Das herauszuarbeiten, wirkt in manchen Fällen entlastend.

Die Krisenberatung wird allerdings kaum neue Impulse geben, wenn jemand schon viele andere Unterstützungsmöglichkeiten nutzt, vielleicht sogar ärztliche oder psycho­therapeutische Angebote.

Wichtig ist mir auch die Abgrenzung zur Supervision: Es geht in der Krisenberatung nicht um Fallbesprechungen aus der täglichen Arbeit. Sie kann zudem fehlenden Austausch im Team oder mit Vorgesetzten nicht ersetzen. Das ist ja oft das Problem: Durch die Corona-Pandemie sind Kommunikationsmöglichkeiten weggefallen, die zur Entlastung besonders nötig wären.

Können Sie uns von einem Beispielfall erzählen, in dem die telefonische Krisenberatung wei­tergeholfen hat?

Eine Frau telefoniert.

Ich habe einen Krankenpfleger beraten, der bei unserem ersten Gespräch arbeitsunfähig war. Er ar­beitete auf einer Covid-19-Station und musste unter anderem mehrere erfolglose Reanimationen miterleben – für ihn traumatisierende Erfahrungen. Die Arbeitslast hatte extrem zugenommen. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen fielen aus. Er beklagte fehlende Wertschätzung und Unterstützung durch Vorgesetzte und Leitung. Akut litt er unter Schlafstörungen und ständiger Erschöpfung.

Darüber in der Krisenberatung reden zu können, entlastete ihn bereits. Wir haben dann darüber gesprochen, wie die Symptomatik entsteht und wie er sich von belastenden Bildern und Erinnerungen distanzieren kann. Anschließend haben wir geschaut, wie er mit der Schlaflosigkeit und den Alpträumen umgehen und sich beruhigen kann. Ein weiterer Schritt war, Aktivitäten aufzunehmen, die guttun: Bewegung an der frischen Luft, Malen, Singen. Und wir haben reflektiert, wie sich die Situation vor dem Hintergrund des eigenen Wertesystems neu bewerten ließe.

Nach drei ausführlichen und zwei kürzeren Gesprächsterminen ging es dem Krankenpfleger deutlich besser. Er war zuletzt wieder voll arbeitsfähig und äußerte sich sehr zufrieden mit dem Beratungsverlauf.

Wie kommt das Angebot insgesamt an?

Viele sind dankbar und freuen sich, dass sie eine andere Perspektive aufgezeigt bekommen. Häufig handelt es sich ja um Menschen, die eigentlich gesund sind und erstmals in eine Situation kommen, in der sie nicht mehr weiterwissen. Sie brauchen einen Anstoß, um zu erkennen, wo sie einen „blinden Fleck“ haben. Nicht jede Krise führt gleich zu Therapiebedarf. Oft geht es darum, geeignete Mechanismen zu kennen, um mit Herausforderungen umzugehen.

Natürlich sind aber auch Fälle dabei, in denen eine Psychotherapie erforderlich ist. Dann klären wir zum Beispiel in einem Gesprächstermin, wie diese eingeleitet werden kann. Die Beratung am Telefon funktioniert gut, auch wenn manche zunächst lieber von Angesicht zu Angesicht sprechen würden. Sie sind dann doch positiv überrascht. Andere finden es gleich gut, nicht so unter Beobachtung zu stehen.

Welchen Rat haben Sie für Menschen, die durch die Pandemie stark belastet sind?

Nehmen Sie sich selbst ernst! Sie haben das Recht, belastet zu sein. Das klingt merkwürdig, aber man darf Belastung nicht abtun, sondern muss sie anerkennen, um sich mit ihr auseinandersetzen zu können. Suchen Sie Kontakt zu Mitmenschen, Kolleginnen und Kollegen, mit denen Sie sich austauschen können. Sprechen Sie über das, was Sie erleben und fühlen.

Ich rate auch dazu, spezifische Hilfsangebote wie die telefonische Krisenberatung zu nutzen. Ihr Arbeitgeber oder Ihre Arbeitgeberin erfährt nichts davon, die Gespräche sind vertraulich. In der Krisenberatung können wir die Dinge besprechen, die für Sie ganz persönlich im beruflichen Kontext schwierig sind. Auch wenn Sie sich noch unsicher sind, ob Sie Unterstützung brauchen, kann die Krisenberatung helfen, Klarheit über die Situation zu erlangen.

Frau Palzer, Sie bieten auch telefonisch-psychologische Beratung nach Extremereignissen an. Dabei handelt es sich um ein reguläres Angebot der BGW für Ver­sicherte, die beispielsweise einen Arbeitsunfall hatten oder im Beruf einen Gewaltvorfall erleben mussten. Was unterscheidet die Krisenberatung davon?

Auch wenn das Grundkonzept und der Beratungsumfang ähnlich sind, macht sich der unterschiedliche Ausgangspunkt bemerkbar. Das Regelangebot setzt meist an einem einzelnen Ereignis an. Die Corona-Pandemie dagegen betrifft alle Menschen und zeigt vielfältige Ausprägungen. Die persönliche Krisensituation kann auch schleichend im Arbeitsalltag entstehen. Deshalb geht es in der telefonischen Krisenberatung zunächst darum, das Problem zu konkretisieren. Für das, was die Menschen derzeit erleben, muss erst einmal eine Sprache gefunden werden. Es gilt, die Belastungssituation zu beschreiben und zu strukturieren – nur dann lässt sich eine individuelle Antwort finden.


Kontakt aufnehmen – Termin erhalten

Unbürokratisch und kostenlos können bis zu fünf Termine telefonischer Einzelberatung à 50 Minuten in Anspruch genommen werden. Das Angebot richtet sich an alle BGW-Versicherten, die durch die besonderen Bedingungen am Arbeitsplatz im Zuge der Corona-Pandemie in eine psychische Krisensituation kommen. Führungskräfte und Beschäftigte können sich mit einem Kontaktformular an die BGW wenden. Innerhalb von zwei Arbeitstagen erhalten sie eine Rückmeldung von einem Psychotherapeuten oder einer Psychotherapeutin.