Die gesetzliche Unfallversicherung deckt nicht nur Unfälle bei der Arbeit ab. Seit nunmehr 100 Jahren stehen auch Wegeunfälle sowie Berufskrankheiten unter ihrem Schutz. Die Arbeitswelt hat sich seitdem stark verändert. Was auch bei heutigen Herausforderungen wie der Covid-19-Pandemie oder neuen Formen der Mobilität geblieben ist: Wenn etwas passiert, setzen sich Berufsgenossenschaften und Unfallkassen mit allen geeigneten Mitteln dafür ein, ihre Versicherten wieder ins Berufs- und Sozialleben zu integrieren.
Bei einem Unfall lässt sich häufig rasch klären, ob er sich bei einer beruflichen Tätigkeit ereignet hat. Dann handelt es sich um einen Arbeitsunfall. Bei Berufskrankheiten sind dagegen oft erst umfangreiche Ermittlungen nötig, um die berufliche Ursache zu bestätigen. Die Berufskrankheiten-Liste führt auf, welche Erkrankungen grundsätzlich als Berufskrankheit anerkannt werden können. "Wie eine Berufskrankheit" behandelt werden Erkrankungen, bei denen die gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufnahme in die Liste vorliegen.
85 Erkrankungen umfasst die Berufskrankheiten-Liste (Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung) aktuell. Als "Wie-Berufskrankheit" hat das Bundessozialgericht zum Beispiel 2023 eine posttraumatische Belastungsstörung bei einem Rettungssanitäter anerkannt.
Eine kleine Zeitreise: Meilensteine der Unfallversicherung
Meilensteine im 19. und 20. Jahrhundert (I)
Mit der "Kaiserlichen Botschaft" begründet Kaiser Wilhelm I. die Sozialversicherung.
Unfallversicherungsgesetz.
5. Juni
Start der gesetzlichen Unfallversicherung mit 55 Berufsgenossenschaften: Noch bezieht sich der Schutz allein auf Arbeitsunfälle.
12. Mai 1925: Ausweitung auf Berufskrankheiten
Die erste Berufskrankheiten-Verordnung berücksichtigt vor allem Schädigungen, die durch chemische Stoffe wie Arsen, Blei, Quecksilber, Benzol und Phosphor verursacht werden. Auch Strahlenschäden durch Röntgenapparate werden einbezogen.
14. Juli 1925: Ausweitung auf Wegeunfälle
Der Weg zwischen Wohnung und Arbeitsstelle wird in den gesetzlichen Versicherungsschutz einbezogen.
Erstmals taucht auch das Prinzip "Reha vor Rente" in der Unfallversicherung auf – das heißt, der Vorrang der beruflichen und medizinischen Rehabilitation vor der Gewährung von Rentenleistungen. Leistungen der Berufsfürsorge – später: Berufshilfe, heute: Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben – sollen es Menschen nach Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten ermöglichen, ins Berufsleben zurückzukehren.
Meilensteine (II)
Der Versicherungsschutz wird auf Beschäftigte in Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege ausgeweitet.
Durch die Arbeit im Gesundheitsdienst und in der Wohlfahrtspflege verursachte Infektionskrankheiten werden als Berufskrankheiten anerkannt. Auch Schwerhörigkeit durch Lärm, Silikose und industriell bedingte Hauterkrankungen werden in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen.
Und außerdem:
17. Mai 1929 – Gründung der BGW: Als inzwischen 69. Berufsgenossenschaft versichert sie alle nichtstaatlichen Gesundheits-, Pflege- und Fürsorgeeinrichtungen.
Bei Hautkrankheiten entfallen Beschränkungen: Entschädigungspflichtig sind jetzt alle schweren oder wiederholt rückfälligen Hauterkrankungen, die beruflich bedingt sind und zur Aufgabe oder zum Wechsel des Berufs zwingen.
Das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz weist der Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit eine zentrale Bedeutung zu. Das Prinzip "Reha vor Rente" wird verfestigt.
Das "D-Arzt-Verfahren" wird eingeführt: Nach Arbeits- und Wegeunfällen sind Durchgangsärztinnen und -ärzte erste Anlaufstellen für die Versicherten und koordinieren das Heilverfahren.
Nach der Wiedervereinigung wird die Zuständigkeit der bundesdeutschen Berufsgenossenschaften offiziell auf die neuen Bundesländer ausgeweitet.
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lenden- und der Halswirbelsäule werden in die Berufskrankheiten-Liste aufgenommen. In der DDR waren sie schon zuvor als Berufskrankheit anerkannt.
Meilensteine (III)
Das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet Unternehmen zur Gefährdungsbeurteilung und zu daraus abgeleiteten Schutzmaßnahmen.
Der Unterlassungszwang entfällt. Bei einigen Berufskrankheiten war zuvor eine Anerkennung nur möglich, wenn die Betroffenen die gefährdende Tätigkeit aufgeben mussten. In den bei der BGW versicherten Unternehmen und Tätigkeitsfeldern betrifft die Änderung vor allem Hauterkrankungen und bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule. Insgesamt wird die Bedeutung der Individualprävention weiter gestärkt.
Häufige Berufskrankheiten im Wandel der Zeit
Von Silikose bis Asbest
Von Silikose bei Covid: Berufskrankheiten im Überblick
Die "Staublunge" ist eine der ältesten bekannten berufsbedingten Erkrankungen. Ab 1929 ist sie in Deutschland als Berufskrankheit anerkannt. Besonders betroffen sind Bergleute, die über längere Zeit hinweg Quarzstaub einatmen.
Symptome zeigen sich oft erst viele Jahre später. Bis heute ist der Umgang mit quarzhaltigem Staub zum Beispiel beim Bauen und Renovieren ein wichtiges Arbeitsschutzthema.
Einsatz eines Röntgengeräts bei der zahnärztlichen Behandlung, 1937.
Strahlenschäden durch Röntgen (2/6)
Die BGW widmet sich frühzeitig dem Thema Röntgen.
Sie beauftragt Tests von Geräten, erlässt Vorschriften, sorgt für Prävention und führt Schulungen durch. Mitte der 1950er-Jahre gehen die Erkrankungen, zum Beispiel Erbgutschädigungen oder Krebserkrankungen, zurück.
Bis in die 1950er-Jahre steht die Tuberkulose unangefochten an der Spitze der Berufskrankheiten-Statistik bei der BGW. Die Infektionsgefahr für das Personal in Krankenhäusern und Heimen ist hoch. Bei der Prävention legt die BGW anfangs unter anderem einen Fokus auf den Gesundheitsschutz in der Pflegeausbildung.
In den 1960er-Jahren löst Hepatitis die Tuberkulose als häufigste Infektionskrankheit im Zuständigkeitsbereich der BGW ab. Durch Forschungsaufträge und Fachtagungen sammelt die BGW genauere Kenntnisse über Infektionswege und Vorbeugemöglichkeiten. Als Hauptursache erweisen sich unzureichende Schutzmaßnahmen des medizinischen Personals beim Kontakt mit Blut oder Serum von infizierten Patientinnen und Patienten. Die passive Immunisierung, die ab Mitte der 1970er-Jahre möglich ist, lässt die Zahl der Neuinfektionen deutlich zurückgehen. Der Trend verstärkt sich durch die in den folgenden Jahren entwickelten Impfverfahren.
Ab Mitte der 1980er- bis Ende der 1990er-Jahre nehmen im Gesundheitsdienst Allergien infolge der häufigen Verwendung von Latexhandschuhen stark zu.
Die BGW klärt über Risiken und Alternativen auf und sorgt dafür, dass gesundheitsschädliche Produkte weitgehend aus dem Verkehr gezogen werden. Daraufhin gehen die Erkrankungen stark zurück.
In den 1950er-Jahren geht die Zahl der Hauterkrankungen bei der BGW steil nach oben. Das hat vor allem mit der Aufnahme der Friseurbetriebe in den Kreis der versicherten Unternehmen im Jahr 1951 zu tun. Teilweise werden bis zu zwei Drittel aller Fälle pro Jahr von ihnen gemeldet. Zu den Ursachen zählen der häufige Kontakt mit Wasser und Chemikalien. Die BGW leistet kontinuierlich Aufklärungsarbeit und startet 1989 ein umfassendes Präventionskonzept: Detaillierte Informationen, neue Arbeitsschutzvorschriften und die Thematisierung in den Berufsschulen machen Schutzhandschuhe, regelmäßige Hautpflege und veränderte Arbeitsabläufe "salonfähig". Zudem verschwinden schädliche Präparate – auch auf Betreiben der BGW – vom Markt.
Die Zahl der Hauterkrankungen geht nach 1991 deutlich zurück. Darüber hinaus wird hauterkrankten Versicherten mit Angeboten zur Individualprävention der Verbleib im Beruf ermöglicht, sodass weniger Umschulungen nötig sind.
Erkrankungen der Wirbelsäule machen schon einige Jahre nach ihrer Aufnahme in die Liste der Berufskrankheiten (1993) rund ein Fünftel der jährlich bei der BGW eingehenden Verdachtsmeldungen aus. Mit Forschung sowie verzahnten Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen steuert die BGW gegen. Ein Beispiel ist das "Rückenkolleg", ein dreiwöchiges Programm in Kooperation mit berufsgenossenschaftlichen Kliniken. Es unterstützt Versicherte dabei, mit berufsbedingten Belastungen ihres Muskel-Skelett-Systems umzugehen.
Immer wichtiger: Individualprävention
Prävention, also Vorbeugung, und Rehabilitation, das heißt Unterstützung für Versicherte bei Erkrankung, sind kein "Entweder-oder". Bei der Individualprävention geht es darum, Versicherte bei berufsbedingten Beschwerden schon frühzeitig so zu unterstützen, dass sie weiter in ihrem Beruf arbeiten können. Die BGW bietet seit Langem insbesondere bei Haut- und Rückenerkrankungen entsprechende Programme an. Ziel ist es, einer Entstehung, einer Verschlimmerung oder dem erneuten Ausbruch der Krankheit entgegenzuwirken.
Covid-19 als Berufskrankheit: Monatlich gemeldete Verdachtsfälle
Die große Herausforderung: Covid-19
Die Covid-19-Pandemie stellt ab 2020 die gesetzliche Unfallversicherung und im Besonderen die BGW vor ihre bisher größte Herausforderung. Zuvor gingen jährlich etwa 1.000 Verdachtsmeldungen auf beruflich bedingte Infektionskrankheiten bei der BGW ein. In Hochphasen der Pandemie erreichen die BGW bis zu 8.000 Covid-19-Meldungen – pro Woche.
Diese Anzeigen des Verdachts auf eine Berufskrankheit gingen 2024 bei der BGW ein:
Schon Anfang der 1950er-Jahre beginnt mit der zunehmenden Motorisierung die Zahl der Unfälle auf dem Weg zur Arbeit und zurück zu steigen. Die BGW verzeichnet bis heute, umgerechnet auf die Zahl der Versicherten, etwas mehr Wegeunfälle als andere Berufsgenossenschaften und Unfallkassen.
Wegeunfälle passieren eher zwischen 6 und 8 Uhr morgens und im Herbst und Winter.
Zusätzlich zur langjährigen Kooperation mit dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) verstärkt die BGW ab Anfang der 1990er-Jahre ihr Engagement in Sachen Verkehrssicherheit. Aktionen, Mobilitätstrainings und Handlungshilfen unterstützen Unternehmen dabei, Beschäftigte zu sensibilisieren und die betriebliche Mobilität sicher zu gestalten. Zunehmend rücken auch neue Themenfelder in den Mittelpunkt – bis hin zum Verzicht auf Handynutzung im Straßenverkehr oder zum Umgang mit E-Bikes und E-Scootern.
Im Jahr 2024 machten Wegeunfälle rund ein Drittel der Entschädigungsleistungen aus, die von der BGW für berufsbedingte Krankheiten und Unfälle gezahlt werden. Die Unfallmeldungen häufen sich vor allem im Herbst und Winter. Bei Nässe, Glätte und Dunkelheit kommt es auch zu vielen Unfällen ohne Beteiligung am Straßenverkehr, beispielsweise wenn jemand auf einem Weg ausrutscht oder auf einem privaten Parkplatz die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert.
Artikel mit Material aus „Für ein gesundes Berufsleben. Seit 75 Jahren Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege“. Hamburg, 2004.