Wenn der Fluchtweg zur Hürde wird BGW magazin - 2/2022
Wir alle sollten uns im Notfall zügig in Sicherheit bringen können. In mehrstöckigen Bürogebäuden ist das eine Herausforderung – vor allem für Personen mit Beeinträchtigung. Fluchtwege müssen daher unbedingt barrierefrei sein.
Es ist ein Montagnachmittag wie jeder andere. Während manch einer schon an den Feierabend denkt, geht plötzlich der Alarm los: Die Sirenen heulen, die Warnlampen leuchten. Im Bürogebäude brennt es. Für die Beschäftigten gilt nun: Ruhe bewahren. Und sich selbst sowie Kolleginnen und Kollegen in Sicherheit bringen.
Fluchtwege einfach gestalten
Eine Herausforderung, die nicht nur Menschen mit Behinderung schnell in ausweglos erscheinende Situationen bringen kann. Damit sie im Alarmfall ebenso sicher und eigenständig das Gebäude verlassen können wie alle anderen Beschäftigten, muss beim Brandschutz von vornherein barrierefrei gedacht werden, erklärt Jürgen Meß, Leiter des Sachgebiets "Barrierefreie Arbeitsgestaltung" der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV).
Vom Grundsatz her sollten Fluchtwege einfach gestaltet sein, erklärt der Experte: Bei der Planung stehen die ‚normalen‘ Verkehrswege im Fokus, sprich: Im Brandfall verlasse ich das Gebäude möglichst auf demselben Weg, auf dem ich es betreten habe.
Dadurch wird verhindert, dass jemand im Notfall noch überlegen muss, in welche Richtung es ins Freie oder einen gesicherten Bereich geht.
Das Zwei-Sinne-Prinzip hilft Menschen mit eingeschränkter Wahrnehmung
Im Sinne der Barrierefreiheit sollten die Verantwortlichen der Gebäude- und Brandschutzplanung zum einen an breite Verkehrswege, Rampen sowie Aufzüge denken und zum anderen stets das Zwei-Sinne-Prinzip berücksichtigen. Damit ist gemeint, dass Informationen immer mit mindestens zwei Sinnen wahrnehmbar sein müssen
, so Meß. Das betrifft sowohl Alarmsignale als auch die Fluchtwegkennzeichnung.
Im Notfall müsse es zum Beispiel sowohl akustische als auch visuelle Signale für jene Menschen geben, die schlecht sehen oder hören. Zusätzlich könnten Anzeigetableaus oder Bildschirme über die Situation informieren.
Damit sich Menschen mit Sehbehinderung im Notfall orientieren können, sind geeignete Leitsysteme erforderlich, zum Beispiel mithilfe fühlbarer Schrift oder Brailleschrift. Anhand derer können sich blinde und schlecht sehende Menschen im Treppenhaus orientieren und wissen, in welchem Stockwerk sie sich befinden und in welcher Richtung der Notausgang liegt.
Im Brandfall verlasse ich das Gebäude möglichst auf demselben Weg, auf dem ich es betreten habe.
Aufzüge für den Brandfall sind mit Planung möglich
Auch Personen, die auf einen Rollstuhl oder Rollator angewiesen sind, sollen sich im Fluchtfall eigenständig in Sicherheit bringen können – ebenfalls aus mehrstöckigen Gebäuden. Unter gewissen Voraussetzungen können hierfür auch Aufzüge weitergenutzt werden. Dabei sind bauliche und technische Aspekte zu beachten – es geht beispielsweise um die Gestaltung der Brandabschnitte, brandschutztechnische Abschottungen, ergänzende Brandmelder beziehungsweise Brandmeldeanlagen oder sichere Stromversorgung.
Genehmigungsbehörden frühzeitig einbinden
Doch Aufzüge als Bestandteil barrierefreier Fluchtwege zu denken, ist laut Meß ein komplexes Thema: Hierfür sollten sich die Verantwortlichen der Gebäude- und Brandschutzplanung sowie der Aufzugsplanung vorab zusammensetzen und intensiv Gedanken über zielgerichtete Lösungen machen. Im Idealfall wird eine Expertin oder ein Experte für Barrierefreiheit hinzugezogen.
Meß rät zudem, die Genehmigungsbehörde frühzeitig einzubinden.
Türen werden oft nicht als Barrieren erkannt. Ist der Zugwiderstand zu groß oder der Griff zu hoch angebracht, können Menschen im Rollstuhl oder mit Muskelschwäche sie nicht öffnen. Hierfür gibt es ebenfalls technische Möglichkeiten, die auch im Brandfall weiterbetrieben werden können.
Barrierefreie Fluchtweggestaltung kommt allen zugute
Insbesondere in öffentlich zugänglichen Gebäudeteilen sei die barrierefreie Flucht herausfordernd, da sich hier häufig unbekannte Personen aufhalten: In Unternehmen weiß man eher, welche Kolleginnen oder Kollegen eine Behinderung haben. In Empfangs- oder Besprechungsbereichen hingegen können sich jederzeit Besucherinnen und Besucher aufhalten, deren Einschränkungen nicht bekannt sind.
Grundsätzlich müssen Beschäftigte regelmäßig unterwiesen werden, was im Notfall zu tun ist, sagt Meß. Dann sind sie im Umgang mit den Warnsignalen und jeweiligen Evakuierungsmaßnahmen geübt und fühlen sich sicherer. In sehr vielen Fällen sind Beeinträchtigungen und Behinderungen nicht angeboren, sondern entstehen mit zunehmendem Alter. Auf barrierefreie Fluchtwege können wir also alle einmal angewiesen sein.
So setzen sich Führungskräfte für eine barrierefreie Evakuierung ein:
- Führungskräfte sollten sich, wo immer möglich, von Anfang an für eine barrierefreie Planung der Arbeitsstätte einsetzen.
- Üben ist das A und O: Führungskräfte sorgen mit regelmäßigen Unterweisungen dafür, dass die Beschäftigten im Notfall genau wissen, wie einzelne organisatorische Lösungen funktionieren.
- Führungskräfte sollten in die betriebliche Eingliederung eingebunden sein, wenn Beschäftigte etwa einen Unfall hatten und danach Beeinträchtigungen haben.
- Um zu erkennen, wie sie Menschen mit Behinderungen bestmöglich unterstützen können, brauchen Führungskräfte kompetente Ansprechpersonen. Das können neben externen Expertinnen und Experten auch Betriebsärztinnen und -ärzte, Schwerbehindertenvertretungen, Personalvertretungen und natürlich die Betroffenen selbst sein.
Quelle: Aktualisierter Nachdruck aus top eins 1/2021
Von: Julia Frese