Lehrplan für den gesunden Betrieb BGW magazin - 1/2021

Die Weichen für sicheres und gesundes Arbeiten kann man nicht früh genug stellen, sagt Prof. Dr. Hiltraut Paridon. An der SRH Hochschule für Gesundheit bildet sie angehende Schulleitungen, Fach- und Führungskräfte aus. Im Interview fordert sie, gerade in Zeiten von Homeoffice und zunehmender Selbstorganisation das Thema Verhältnisprävention nicht zu vernachlässigen. In der Ausbildung wie im betrieblichen Alltag sollten Arbeitsschutzstrukturen und Verantwortlichkeiten bekannt gemacht werden.

Porträt Prof. Dr. Hiltraut Paridon

Prof. Dr. Hiltraut Paridon

Zur Person: Prof. Dr. Hiltraut Paridon ist Diplom-Psychologin und war lange am Institut für Arbeit und Gesundheit (IAG) der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung tätig. Sie beschäftigt sich insbesondere mit psychischen Belastungen bei der Arbeit und zukünftigen Entwicklungen der Arbeitswelt.

Paridon leitet den Studiengang Medizinpädagogik an der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera. Dort steht sie auch maßgeblich hinter einer Kooperation mit der BGW, in deren Rahmen unter anderem Studierende auf einer Exkursion Einblicke in die gesetzliche Unfallversicherung, ihre Präventionsarbeit und ihre Rehabilitationsangebote erhalten.

Frau Prof. Dr. Paridon, Ihre Studierenden haben eine Ausbildung hinter sich und studieren berufsbegleitend, um später als Lehrkraft an Schulen des Gesundheitswesens tätig zu sein. Eigentlich müsste ihnen das Thema Arbeitsschutz vertraut sein.

Vielen ist nicht bewusst, welche Regelungen es zum Arbeitsschutz gibt. Sie kennen vielleicht ihre Betriebsärztin, aber nicht die Sicherheitsbeauftragten. Sie denken an Einzelthemen wie Muskelentspannung zur Stressbewältigung, haben aber nicht das ganze Bild im Blick. Umso wichtiger ist es, ein Bewusstsein für die Maßnahmenhierarchie – also Technik vor Organisation vor Person – zu vermitteln. Denn über dem, was man selbst für seine Gesundheit am Arbeitsplatz machen kann, steht die Verhältnisprävention, die an Arbeitsumgebung, Strukturen und Abläufen ansetzt. Schon angehende Fach- und Führungskräfte sollten verstehen, dass zunächst technische und organisatorische Maßnahmen umzusetzen sind. Damit kann unabhängig vom Verhalten Einzelner Sicherheit und Gesundheit geschaffen werden.

Das klingt für viele sehr abstrakt …

Ein verbreitetes Missverständnis ist beispielsweise, dass 'Technik' Maschinen meint. Dabei fängt das bei Arbeitsmitteln wie einem Stift oder einer Spritze an. Wir müssen also die richtigen Assoziationen wecken. Da wird der Desinfektionsmittelspender mit der Hand bedient statt mit dem Arm – ein Hygienerisiko. Womöglich hätte man schon beim Einkauf prüfen können, ob ein berührungsloses Modell infrage kommt.

Wir müssen zeigen, wo Arbeitsschutz ansetzt, was wer tun kann und wie die Verantwortlichkeiten geregelt sind. Ich halte es für entscheidend, dass frühzeitig auf Strukturen, Ansprechpersonen und Themen aufmerksam gemacht wird – und auf die Bedeutung von Prävention. Es geht darum, vorher dafür zu sorgen, dass hinterher nichts passiert. Dazu gehört, dass Verbesserungsvorschläge willkommen sind und aufgegriffen werden. Das wiederum müssen schon Azubis wissen – und Führungskräfte müssen entsprechende Prozesse etablieren.

Junge Frau mit Rucksack, Notizbuch und Maske

Welche Rolle spielen solche Fragen in der Ausbildung von Gesundheitsfachkräften?

Es tut sich viel im Gesundheitswesen: Akademisierung, neue Berufsbilder und Ausbildungsgänge. Der Pflegebereich ist ein Prototyp, dem andere folgen werden. Das Themenfeld Sicherheit und Gesundheit gehört in die Lehr- und Ausbildungspläne – damit ist es aber nicht getan. Die Frage ist, wie das im Detail gestaltet wird.

Curriculare Einheiten beschreiben einen Rahmen – so gibt es in den neuen Pflegeausbildungen beispielsweise den Anknüpfungspunkt 'Gesundheit fördern und präventiv handeln', in dem sich der Arbeitsschutz aufgreifen lässt. Der Fokus in der Ausbildung liegt oft zu sehr auf Gesundheitsförderung, Resilienz, Stressbewältigung. All das ist wichtig, reicht aber nicht.

Entsprechend müssen auch die Lehrkräfte vorbereitet werden. Hier setzt unsere Kooperation mit der BGW an: Bereits im Studium beschäftigen sich angehende Lehrerinnen und Lehrer mit der Organisation des Arbeitsschutzes und den Möglichkeiten der Verhältnisprävention. Themen zur Sicherheit und Gesundheit müssen dann im Verlauf der Ausbildung immer wieder platziert und miteinander verknüpft werden.

Wie lässt sich das Bewusstsein für die Gesundheit am Arbeitsplatz auch im betrieblichen Alltag schärfen?

Eine 'Salamitaktik' kann helfen: Isolierte Einzelaktionen bringen oft weniger als viele scheinbar kleine aufeinanderfolgende Schritte. Zum Beispiel in jeder Teambesprechung, auch auf Führungsebene, fünf Minuten für Gesundheitsthemen zu reservieren. Das muss natürlich ernst genommen werden. Dann merken Mitarbeitende: Ich kann mit meinen Anliegen kommen. Ein anderes Beispiel sind Unterweisungen. Sie müssen regelmäßig stattfinden, werden aber oft vernachlässigt oder sind so aufgebaut, dass man sie schnell wieder vergisst.

Mit einem anderen Format bleiben sie vielleicht besser im Gedächtnis. Wie wäre es mit einem Quiz zur Einleitung? Neulinge im Betrieb lernen erst selbst die Strukturen kennen und führen dann eine Rallye zur Arbeitssicherheit für die alteingesessenen Beschäftigten durch. Wie viele Feuerlöscher haben wir eigentlich? Was macht die Fachkraft für Arbeitssicherheit? So etwas haben wir an der SRH Hochschule für Gesundheit schon ausprobiert – und es hat Spaß gemacht.

Ob bei der Ausbildung oder im betrieblichen Alltag – Kontinuität und gute Ideen sind gleichermaßen wichtig, um die Bedeutung von Gesundheitsthemen im Bewusstsein zu verankern. Es geht außerdem um verlässliche Informationen – und seriöse Quellen. Machen Sie in Ihrem Unternehmen bekannt, wo man Hintergründe nachlesen kann. Es braucht solche Wegweiser in Sachen Gesundheit am Arbeitsplatz.

Sich selbst informieren spielt heute eine immer größere Rolle. Welche Folgen hat das für Ausbildung und Beruf?

Ein übergeordnetes Thema ist selbstorganisiertes Lernen und Arbeiten. Das merken wir gerade bei den neuen Pflegeausbildungen. Und natürlich haben Corona, Homeoffice und der aktuelle Digitalisierungsschub diesen Trend noch einmal verstärkt. Damit darf aber keine Verantwortungsverschiebung auf die einzelne Person einhergehen. Die Veränderungen sind gut – können aber überfordern. Tipps für gesundes Arbeiten sind hilfreich, können aber nur ein Baustein sein. Ich möchte es immer wieder betonen: Die Verhältnisprävention darf nicht in den Hintergrund treten. Ein großes Handlungsfeld sind in diesem Zusammenhang sicherlich auch psychische Belastungen.

Das betrifft auch die Führungskräfte, oder?

Genau. Sie haben es mit Mitarbeitenden zu tun, die mitdenken und selbstverantwortlich handeln sollen. Zugleich gilt immer noch die Verantwortung des Betriebs, der Führungskraft. Das ist eine große Herausforderung. Vorgesetzte müssen auch in Zeiten von Homeoffice, Digitalisierung und Beteiligung vermitteln, welche Regeln zu beachten sind, die nicht diskutabel sind, und über welche Regeln man sich ergebnisoffen austauschen kann. Es kann jedoch anstrengend sein, bei Einzelfragen immer wieder Überzeugungsarbeit zu leisten.

Und was empfehlen Sie?

Wichtig ist es, dass Beschäftigte und auch schon Auszubildende ein grundsätzliches Vertrauen in ihren Betrieb entwickeln. Sie müssen nachvollziehen und verstehen können, worauf es ankommt. Um diese Klarheit zu schaffen, sollten Führungskräfte informieren, Hintergründe erläutern und die Art der Zusammenarbeit klären. Aber auch gesamtgesellschaftlich sollten wir einen Diskurs darüber führen, wie wir morgen leben und arbeiten wollen. Schließlich geht es darum, langfristig auch unsere psychische Gesundheit zu erhalten.