Riecht nicht – ist ungefährlich ... oder doch nicht? Drei Arbeitsschutz-Mythen im Faktencheck #121 BGW-Podcast "Herzschlag - Für ein gesundes Berufsleben"
In dieser Folge nehmen Moderator Ralf Podszus und Experte Andreas Kummer drei weit verbreitete Mythen rund um den Arbeitsschutz unter die Lupe. Sind Gefahrstoffe wirklich immer am Geruch zu erkennen? Kann man psychische Belastungen überhaupt messen? Und bedeutet eine Krankschreibung automatisch ein Arbeitsverbot?
Klar, praxisnah und mit vielen Beispielen zeigen die beiden, was stimmt – und was ins Reich der Legenden gehört. Sie erklären, worauf Unternehmen wie Beschäftigte achten sollten, um Risiken frühzeitig zu erkennen und den Arbeitsschutz wirksam umzusetzen.
Hier kommen Sie zum Transkript dieser Folge
Moderator:
Zucker macht Kinder hyperaktiv. Kaffeesatz ist der perfekte Blumendünger. Und Blitze schlagen niemals zweimal an derselben Stelle ein. Ja, solche Mythen begegnen uns überall im Alltag – bei der Arbeit, auf Social Media. Viele davon sind harmlos. Wenn es jedoch um Arbeitsschutz geht, kann falsches Wissen gefährlich werden. Deswegen nehme ich mir in dieser Podcast-Folge drei weit verbreitete Mythen rund um den Arbeitsschutz vor. Was stimmt wirklich – und was gehört ins Reich der Legenden? Zum Beispiel bei den Themen Krankmeldungen oder psychische Belastungen.
Jingle:
Herzschlag! Für ein gesundes Berufsleben, der BGW-Podcast.
Moderator:
Arbeitsschutz – ein Thema voller Halbwissen und Missverständnisse. Jetzt bringt mein Gast Licht ins Dunkel: Andreas Kummer ist Experte für betriebliches Gesundheitsmanagement und Organisationsentwicklung. Er berät Mitgliedsbetriebe der BGW. Und er ist jetzt bei mir – ich grüß dich! Hi!
Andreas Kummer:
Hi, ja hallo Ralf! Schön, dass wir uns nach dreieinhalb Jahren mal wieder hören. Ich bin gespannt, was du mir für Fragen stellst – ich will natürlich gern zur Aufklärung beitragen.
Moderator:
Ja, sehr schön! Es ist wirklich schon eine Weile her. Andreas war mal Gast bei Herzschlag – in der Folge „Umgang mit Veränderungen“. Da hast du uns Tipps gegeben, wie man erfolgreich mit Herausforderungen umgehen kann – Stichwort Digitalisierung und so. Hört mal rein in die Folge! So, Andreas, du bist in vielen Unternehmen unterwegs und sprichst dort mit Beschäftigten, Betriebsräten und auch Führungskräften. Was sind die Fragen, die dir im Bereich Arbeitsschutz am häufigsten begegnen?
Andreas Kummer:
Wirklich viele! Also, du hast völlig recht – für alle, die mich noch nicht kennen: Seit 30 Jahren gehe ich mit Freude in soziale Systeme hinein. Und da gibt es natürlich immer wieder neue Themen im Arbeits- und Gesundheitsschutz. Natürlich haben wir auch die klassischen Arbeitsschutzthemen weiterhin auf dem Zettel. Aber aktuell geht es in den Betrieben vor allem darum, bei den knappen Ressourcen und den herausfordernden Personalsituationen das Niveau des sicheren und gesunden Arbeitens zu stabilisieren – und möglichst zu verbessern. Gerade nach der Pandemie – da haben wir beide uns ja auch getroffen – ging es um Herausforderungen wie steigende Krankenstände. Wie schaffen wir das noch mit unserer Personalsituation? Jeden Tag lesen wir es in der Zeitung: Fachkräfte fehlen oder fallen aus. Und darum geht es für die Betriebe – die Dienstleistungs- und Beratungsqualität möglichst hochzuhalten. Das ist das Hauptthema. Und deshalb müssen wir auch den Arbeitsschutz gut weiterentwickeln.
Moderator:
Ja, wir haben uns in der Pandemie getroffen – als man das noch durfte, ne? Eine verrückte Zeit war das. So, jetzt klopfen wir mal – und zwar zusammen – neue Mythen auf ihren Wahrheitsgehalt ab. Starten wir mit dem ersten Mythos, Andreas.
Stimme aus dem Off:
Gefahrstoffe erkennt man am Geruch.
Moderator:
Das klingt plausibel, oder? Es stinkt – also gehe ich erstmal lieber weg. Aber ganz so einfach ist das nicht. Andreas, was steckt hinter dieser Annahme – und warum kann das im Arbeitsalltag riskant werden?
Andreas Kummer:
Ja, genau – das klingt erstmal plausibel. Du bist da ganz auf der richtigen Spur. Leider ist das wirklich ein Mythos. Wir können das sogar noch unterteilen in Mini-Mythos Nummer 1: „Was stinkt, ist gefährlich.“
Moderator:
Dann könnte man ja in keine Tram und keinen Bus mehr einsteigen – im Sommer zum Beispiel.
Andreas Kummer:
Aber das wollen wir gleich aufklären, denn es gibt da wirklich Varianten, auf die man jetzt schauen muss. Und wir gucken mal auf Mini-Mythos 2 – auch den wollen wir mit klären: „Das wäre dann: Wenn es nicht riecht, ist es harmlos?“ Auch das steht oft in Verbindung mit Gefahrstoffen. Und: „Wenn man nichts sieht und nichts riecht, ist alles okay.“ Nein – leider nicht. Unsichtbare, geruchlose Stoffe können gefährlich sein.
Moderator:
Kann man sogar sagen: Das sind die gefährlichsten?
Andreas Kummer:
Auch das ist nicht so einfach – die Realität ist komplexer. Du hast vorhin die Straßenbahn erwähnt: Du kommst rein und nimmst über die Nase – ein faszinierendes Organ – Gerüche wahr. Es gibt auch Filme dazu, die auch mit dem Geruch verbunden waren.
Moderator:
Das Parfum zum Beispiel, aber auch ein schönes Buch vor allem.
Andreas Kummer:
Genau, das war da mit dabei. Und wir müssen aber feststellen: Die Nase als faszinierendes Organ ist kein Messgerät. Also das ist schon mal der Trugschluss, der mit dabei ist. Gerüche sind sehr subjektiv. Geh mal aus der Straßenbahn weg: Manche empfinden Benzingeruch als unangenehm – andere verbinden damit positive Erinnerungen. Ich habe das mal in der Praxis getestet – die Meinungen gehen da weit auseinander.
Moderator:
Es gibt sogar einen Fetisch – manche stehen richtig auf diesen Tankstellengeruch. Dabei sind Benzole doch wirklich gesundheitsschädlich.
Andreas Kummer:
Das ist richtig. Die Nase ist für uns nicht nur ein faszinierendes, sondern auch ein sehr hochsensibles Organ. Und das Schöne ist: Sie hilft uns im Alltag, Dinge intuitiv einzuordnen. Aber ob etwas unangenehm, angenehm oder sogar neutral riecht – das ist im Arbeitsschutz noch einmal genau zu prüfen. Denn hier entstehen häufig Fehleinschätzungen. Gerüche werden subjektiv wahrgenommen, und genau das führt zu Irrtümern. Ein Beispiel: Es gibt Stoffe, die wir sehr deutlich riechen – wie etwa Buttersäure, die bei Schweißgeruch entsteht. Und es gibt Stoffe, die vollkommen geruchlos sind, zum Beispiel Kohlenmonoxid oder bestimmte Lösungsmittel, die wir im Arbeitsumfeld einsetzen. Entscheidend ist also nicht, ob ein Stoff riecht, sondern in welcher Konzentration und über welchen Zeitraum wir ihm ausgesetzt sind. Das nennt man im Arbeits- und Gesundheitsschutz das sogenannte Dosis-Wirkungs-Prinzip. Ein weiteres Phänomen betrifft unsere Riechzellen: Sie gewöhnen sich sehr schnell an einen Geruch. Das bedeutet, dass ein Stoff weiterhin in der Luft sein kann, wir ihn aber nicht mehr wahrnehmen – einfach, weil sich unser Geruchssinn daran angepasst hat. Auch das kann zu Fehleinschätzungen führen.
Moderator:
Nee – der Windeleimer riecht doch gar nicht mehr.
Andreas Kummer:
Also, du hast recht – es gibt auch Beispiele aus der Praxis, bei denen dieser Irrglaube zu Problemen geführt hat. Viele Stoffe riecht man auf der einen Seite gar nicht, auf der anderen Seite sind sie zwar riechbar, aber das reicht nicht aus. Im Arbeits- und Gesundheitsschutz – und da bist du ja auch unterwegs – gibt es Stoffe, die selbst in geringer Konzentration krebserzeugend sind. Ein Beispiel aus dem Gesundheitswesen: krebserzeugende Stoffe wie Formaldehyd. Es gibt auch Gefahrstoffe, die Allergien auslösen können – und das nicht nur durch Einatmen, sondern auch durch Hautkontakt.
Moderator:
Welche unsichtbaren, tückischen Gefahrstoffe hast du denn so mal als Beispiel noch?
Andreas Kummer:
Ja, also wenn man auch so oft diese unsichtbaren Dinge mit betrachtet, die mit dabei sind. Wir kommen mal wieder zu unserer Nase, die sich – na ja – schnell daran gewöhnt. Und dort, wo wir mit unserem Schutzmechanismus der Nase, also der sogenannten sensorischen Adaption – so wird das benannt – arbeiten, kann es eben auch gefährlich werden. Und auch da ist der Blick wichtig, gerade wenn du an Arbeiten in Gruben, in Tanklagern denkst – solche Dinge, wo auch Gefahren liegen können. Ja, oder auch wenn wir mit alkoholischen Flächendesinfektionsmitteln arbeiten, zum Beispiel wenn wir einen Rettungswagen desinfizieren müssen. Da kommt es natürlich zu Dingen, auf die man wirklich achten muss. Denk mal an Kliniken, vielleicht auch Reha-Einrichtungen oder Schwimmbäder, wo hohe Konzentrationen – aus hygienischen Gründen – auftreten. Dann geht es um die Chlorung von Wasser und die Belüftung, die genau abgestimmt werden muss. Und da hilft uns die Nase dann eigentlich nicht mehr. Da gilt: Es muss gemessen werden. Es gibt Grenzwerte. Und wir sprechen nachher ja auch noch mal über die möglichen Schutzmaßnahmen, die es gibt. Aber in der Regel ist es so – so wie wir in den Betrieben unterwegs sind – es geht um Aufklärung, es geht um Unterweisung, es geht um Technik, um Messgeräte, Grenzwerte – sich das je nach Arbeitssituation genau anzuschauen.
Moderator:
Aber gehen wir doch jetzt mal gleich über zu den technischen Hilfsmitteln oder auch Schutzmaßnahmen, die dabei helfen können. Was sind das für welche?
Andreas Kummer:
Also wir erleben erstmal – und das ist eigentlich das Positive – man verlässt sich nicht nur auf das Bauchgefühl. Das ist die Botschaft: geprüfte Schutzmaßnahmen und moderne Messtechnik, die genutzt werden kann. Da helfen die Fachkräfte für Arbeitssicherheit, da können wir auch Gefahrstoff-Experten mit hinzuziehen. Und es gibt viele veröffentlichte Informationen und Regeln, die dazu beitragen, dass wir den Gesundheitsschutz für die Mitarbeitenden langfristig sichern können. Und dann eben auch genau das, was ich beschrieben hatte: dieses Dosis-Wirkungs-Prinzip zu überprüfen und zu nutzen – mit Messtechnik zu agieren.
Moderator:
Was muss jetzt ein Betrieb machen, um seine Mitarbeitenden zu schützen? Jetzt überall Messgeräte aufstellen – das reicht wahrscheinlich nicht.
Andreas Kummer:
Nein, natürlich nicht. Es gibt Regeln, die eingehalten werden müssen. Nehmen wir nur das Beispiel – und da gibt es auch die Vorlagen dazu – wenn wir an Verpackungen oder Gebinde denken, die Gefahrstoffe enthalten, dann müssen die sichtbar mit Piktogrammen oder Hinweistexten gekennzeichnet sein. Die Hersteller liefern meistens auch die Sicherheitsdatenblätter mit – die liegen oft vor. Und das ist kein Geheimnis bei der Analyse und Beurteilung von Gefahrstoffen. Wir agieren wie gewohnt mit Gefährdungsbeurteilungen. Wir prüfen die Gefahrstoffverzeichnisse, die es gibt. Wir nutzen Betriebsanweisungen. Und selbstverständlich gehen wir für unsere Mitarbeitenden in Richtung Unterweisung – um das zu klären und verständlich zu machen. Vielleicht auch in einfacher, leichter Sprache, um klarzumachen, was da entstehen kann. Und eigentlich der Hauptpunkt bei all dem ist: Wir binden die Mitarbeitenden in diesen ganzen Prozess mit ein.
Moderator:
Auch das nächste Thema ist unsichtbar und doch sehr wichtig. Zeit für Mythos Nummer 2.
Stimme aus dem Off:
Psychische Belastungen sind individuell und können nicht in einer Gefährdungsbeurteilung bewertet werden.
Moderator:
Tatsächlich zählen psychische Erkrankungen zu den Hauptursachen für Fehlzeiten – direkt nach Atemwegs- und Muskel-Skelett-Erkrankungen. Trotzdem gibt es beim Thema psychische Belastung immer noch viel Unsicherheit. Andreas, du bist ja in vielen Unternehmen unterwegs. Wie ist dein Eindruck – wie gehen Betriebe mit diesem Thema um?
Andreas Kummer:
Also zuerst einmal ist ganz wichtig: Wir müssen in den Betrieben die Unterschiede klar machen – auch bei den Begrifflichkeiten. Ich erlebe da immer eine große Unsicherheit: Was sind psychische Erkrankungen, was sind psychische Belastungen? Die Hauptidee ist eigentlich, dass wir bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen im Betrieb nicht über psychische Erkrankungen sprechen. Es geht nicht darum, psychische Erkrankungen zu analysieren, sondern wir schauen auf die Arbeitsbedingungen – die analysieren und beurteilen wir. Das ist der Hauptpunkt. Und diese Klärung muss im Betrieb stattfinden. Wir wollen nicht dem einzelnen Mitarbeitenden in den Kopf schauen, sondern es geht darum, die Arbeitsbedingungen zu betrachten – für die Tätigkeitsbereiche, für die Arbeitsbereiche. Und dann gemeinsam mit den Anspruchsgruppen – Mitarbeitenden, Führungskräften, Mitarbeitervertretungen – und den Experten, die uns intern und extern helfen können, zu prüfen: „Was sind eigentlich die Belastungen im Betrieb?“ Und das sind erstmal alle Einflüsse, die objektiv von außen auf den Menschen in der Arbeitssituation einwirken. Diese Einflüsse können aus der Arbeitsorganisation, der Arbeitsumgebung, den Arbeitsmitteln, den sozialen Beziehungen und der eigentlichen Arbeitsaufgabe entstehen.
Moderator:
Viele Unternehmen fragen sich dann ganz praktisch: Wie können wir das eigentlich messen? Andreas, was sind deine Erfahrungen – gute Methoden oder Tools, um psychische Belastungen greifbarer zu machen?
Andreas Kummer:
Also mit dem Blick: Im ersten Schritt geht es um diese Klärung – ja, Begrifflichkeiten. Dann gehört noch dazu, die Arbeitsbedingungen und die Belastung zu prüfen. Und auf der anderen Seite steht die Auswirkung, die aus diesen Einflüssen entsteht – eben die Individualität jedes einzelnen Mitarbeitenden. Und das hängt davon ab, welche Leistungsvoraussetzungen er mitbringt oder auch welche Bewältigungsstrategien er im Laufe seines Lebens gelernt und angewendet hat. Das heißt: Die Anforderung ist die Analyse und Beurteilung der Belastungen. Und wenn es dort kritische Ausprägungen gibt, dann müssen wir prüfen: Gibt es dazu eine Maßnahme, die veränderbar ist, die man mitnutzen kann? Und dieses Messen, dieses Analysieren – das ist natürlich komplexer, als wenn man auf ein anderes Thema wie Gefahrstoffe schaut, wo man mit einem Messgerät vielleicht etwas machen kann. Hier gibt es drei wesentliche Verfahren, die wir anwenden können: Das ist die schriftliche Befragung – da gibt es viele Möglichkeiten, viele Tools dazu. Das ist ein Workshop, den ich mit den Mitarbeitenden in den Arbeits- oder Tätigkeitsbereichen umsetze. Oder ich bin – zum Beispiel in der Pflege – mit sogenannten leitfadengestützten Interviews unterwegs. Also ich frage die Mitarbeitenden im Prozess der Arbeit, was gelingt und was nicht – und das kann ich natürlich auch kombinieren. Das heißt: In der Komplexität brauche ich mehr die Sichtweisen und Meinungen der Mitarbeitenden. Und die Botschaft ist eher: Gelingt es, für den Betrieb das richtige Verfahren zu finden, mit dem wir die Arbeitsbedingungen analysieren können?
Moderator:
Es sind ja zum Glück alle Menschen anders. Die eine Person kommt mit Druck wunderbar klar, die andere bekommt bei demselben Tempo jedoch Stresssymptome. Wie kann man solche Unterschiede in der Gefährdungsbeurteilung berücksichtigen? Alle sind Individualisten.
Andreas Kummer:
Und das ist die große Herausforderung, die eben am Anfang zu klären ist. Ich habe es vorhin schon beschrieben: Es geht um die Analyse und Beurteilung der Arbeitsbedingungen. Das heißt aber nicht, dass ich mich nicht auch um die einzelnen Mitarbeitenden kümmern kann. Also ich schaue auf die Tätigkeitsgruppen, ich schaue auf die Arbeitsbereiche, die dabei sind: Wo sind auffällige Themen? Was funktioniert in der Arbeitsorganisation nicht, in den Arbeitsabläufen? Was hat eine Wirkung auf den Großteil der Mitarbeitenden? Und für den Einzelnen – da bin ich wieder bei den Beanspruchungen – kann es natürlich sein, dass er mit bestimmten Situationen nicht klarkommt. Dafür gibt es mittlerweile gute Möglichkeiten für Betriebe, auch dort zu agieren. Und da hilft dann eher das persönliche Mitarbeitergespräch. Ja, es gibt Programme, die man nutzen kann, die vielleicht auch einzelnen Mitarbeitenden in herausfordernden Lebenssituationen helfen können. Wir haben bei den Führungskräften oft Coaching-Ansätze, die helfen können. Und das kann ich als Betrieb auch tun und auf den Weg bringen, damit der einzelne Mitarbeitende seine Arbeit gut bewältigen kann.
Das ist eigentlich die Hauptidee – und da auch mit draufzuschauen. Und da liegt es in der Verantwortung der Führungskräfte, das zu erkennen – möglichst immer mit dem Gedanken: Wir nutzen die Verbesserungsvorschläge der Mitarbeitenden.
Moderator:
Schauen wir jetzt noch mal auf die rechtliche Seite. Was ist eigentlich Pflicht – also was verlangt der Gesetzgeber ganz konkret – und wo haben Unternehmen Spielraum, um eigene Wege zu gehen?
Andreas Kummer:
Also es gibt schon Spielraum – zum Beispiel bei der Auswahl der Verfahren.
Der entscheidende Schritt ist eigentlich der Prozess. Das ist in der Praxis immer wieder auffällig: dass dieser Prozess eingehalten wird. Wir schauen auf die Arbeits- und Tätigkeitsbereiche: Wen, wo, wie auswählen? Wir wählen das Verfahren aus – da habe ich Spielraum, da kann ich schauen, wie das geht. Ich konzentriere mich auf die Analyse der Belastungen. Ich suche natürlich auch die Dinge, die gut laufen – das wäre für den Prozess auch wichtig. Und dann geht es darum, bei den Dingen, die veränderbar sind – das muss ich natürlich einschätzen, denn es gibt auch Dinge, die nicht veränderbar sind. Nehmen wir zum Beispiel Rahmenbedingungen, die von außen gesetzt werden – die können wir nur schwer verändern. Aber im Prozess habe ich Spielräume: Welches Verfahren will ich einsetzen? Wie will ich das auf den Weg bringen? Wie binde ich die Mitarbeitenden über diese Verfahren – Workshop, Befragung oder Kombination – mit ein? Und letztlich geht es darum, dass wir die Arbeitsbedingungen analysieren und beurteilen – und zwar nach den Belastungen und nach den Ressourcen.
Moderator:
Jetzt bin ich gespannt, was du zum nächsten Mythos sagst. Der begegnet uns im Arbeitsalltag tatsächlich ziemlich häufig.
Stimme aus dem Off:
Wer krankgeschrieben ist, darf nicht arbeiten.
Moderator:
Das klingt ganz klar – ist jedoch komplexer. Andreas, was genau bedeutet eine Krankschreibung, und was ist während dieser Zeit erlaubt oder sogar sinnvoll?
Andreas Kummer:
Ja, also das ist wirklich ein sehr herausforderndes Thema – und das hat natürlich unterschiedliche Perspektiven. Aus Sicht eines Unternehmens oder Betriebs heißt es: Ich muss die Arbeitsprozesse aufrechterhalten. Und aus Sicht der Fürsorgepflicht eines Unternehmens – also was sie tun müssen – ist das natürlich eine andere Perspektive.
Dann haben wir den einzelnen Mitarbeitenden – das kann ja auch eine Führungskraft sein. Wenn es mir nicht gut geht, wenn ich mich krank fühle, wenn ich zum Arzt oder zur Ärztin gehe, dann gibt es eine fachliche Expertise – also eine Diagnose – und in der Regel auch eine vorläufige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Und ich als Mitarbeitender kümmere mich dann darum, dass ich in der Zeit Genesung und Regeneration nutze.
Moderator:
Und eine ganze Serienstaffel endlich mal durchbingen kann.
Andreas Kummer:
Und so. Aber eigentlich geht es darum, dass ich mich wieder vollständig so herstelle, dass ich wieder fit, gesund und belastbar bin – das wäre die Idee. Nun, da haben wir unterschiedliche Sichtweisen. Nehmen wir mal das Beispiel: Auf dem Weg zur Genesung habe ich eine leichte Erkältung, bin ansteckend – dann bleibe ich zu Hause. Und erst wenn ich wieder gesund bin, komme ich zur Arbeit. Auf der anderen Seite habe ich vielleicht längere Beschwerden – Rückenschmerzen, Konzentrationsprobleme – ich kann der Arbeit gar nicht nachgehen. Deshalb ist die Hauptintention: Krank ist krank. Es gibt eine Diagnose – krank ist krank. Ich habe aber auch eine Verantwortung für meine eigene Gesundheit und muss für mich sehen, dass ich möglichst wieder gesund werde – und auch etwas dafür tue, dass ich später fit und belastbar bin. Und jetzt geht es darum: Wie gestaltet sich der Regenerations- und Genesungsprozess, damit ich vollständig wieder gesund werde?
Moderator:
Da kann man ja, wenn es einem schon mal wieder besser geht, die eine oder andere E-Mail checken, vielleicht beim Online-Meeting remote teilnehmen und so weiter. Ist das sogar vielleicht sinnvoll?
Andreas Kummer:
Also ich habe schon beschrieben: Mitarbeitende haben dort eine Selbstverantwortung. Das ist, glaube ich, ganz wichtig in dem Rahmen – und du hast es angesprochen.
Auf der einen Seite ist da die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die formal sagt: Ich bin krank – bis zu dem Termin – und dann kann ich auch wieder arbeiten gehen. Ja, so ist das geregelt. Und auf dieser Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung steht aber „vorläufig“. Und jetzt kann ich natürlich für mich schauen: Wenn ich sage, in dem Rahmen – also ich will bestimmten Tätigkeiten wieder nachgehen, ich bin nicht ansteckend, ich fühle mich vielleicht auch wieder wohl – dann kann ich für mich die Entscheidung treffen: Ich beende diese vorläufige Arbeitsunfähigkeit. Das ist eine vorläufige – das heißt, ich fühle mich wieder fit. Ich muss jetzt auch nicht extra zum Arzt gehen. Das ist eigentlich auch so ein Mythos, der oft in den Betrieben beschrieben wird: Es gibt keine Gesundschreibung – das gibt es eben nicht in dem Rahmen. Ja, also: Ich kann für mich prüfen, wenn ich mich gesund und fit fühle, ob ich dann die Entscheidung treffe und sage: „Okay, ich kann meinen Tätigkeiten wieder nachgehen.“
Moderator:
Wie sollten jetzt Unternehmen damit umgehen, wenn Mitarbeitende von sich aus sagen: „Ich würde gern schon mal wieder einsteigen – ich habe gelesen, es ist ja nur vorläufig, ich darf ja wieder. Komm, da bin ich!“
Andreas Kummer:
Also wir müssen da auf die Kultur der Unternehmen schauen. Das ist natürlich ein wichtiger Ansatz. Eher mit der Idee: Ich verfolge den Blick und auch die Prämisse, dass krank auch erst mal krank ist. Ich muss mich genesen – zur vollständigen Wiederherstellung. Du kennst den Begriff: Präsentismus steigt überall. Das heißt, Mitarbeitende gehen krank zur Arbeit – und das hat viel höhere Auswirkungen auf Produktivität oder Leistungsvermögen, wenn das so gestaltet ist.
Moderator:
Nichts ist schlimmer, als ein vollgerotztes Büro zu haben – und ist ja klar, dass es dann noch weitere Krankheitsfälle gibt.
Andreas Kummer:
Eben. Das müssen wir ausschließen – das ist so. Und da muss ich als Führungskraft natürlich auch Vorbild sein. Wenn ich als Führungskraft mit besonderer Verantwortung für mich selbst wahrnehme – also wenn ich derjenige bin, der im Kranksein anfängt, E-Mails zu schreiben und damit meinen eigenen Genesungsprozess blockiert – dann bin ich nicht in der Vorbildfunktion. Deshalb gilt in den Betrieben: Aufklärung – wie gehen wir mit diesem Thema um? Was verstehen wir unter Kranksein, unter Gesundsein? Natürlich braucht man jeden Mitarbeitenden, um die Dienstleistung zu erfüllen – aber das kann man gut mit Führungskräften und Mitarbeitenden besprechen. Und die Mitarbeitenden – im Sinne der Fürsorgepflicht – auch ganz klar ermutigen: „Genese erst mal. Nutze diesen Genesungsprozess, um gut in die Regeneration zu kommen. Wenn du wieder da bist, sollst du auch belastbar sein.“ Sollte ein Mitarbeitender für sich sagen: „Ich habe jetzt hier vielleicht eine Woche, in der die Arbeitsunfähigkeit gilt, aber ich fühle mich vielleicht schon von Mittwoch auf Donnerstag wieder wohl, ich bin nicht ansteckend und wieder fit“ – und trotzdem habe ich die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis Freitag – dann wäre die Empfehlung: Wenn das so ist, kann ich das selbst für mich entscheiden, mich bei meiner Führungskraft melden und das mit ihr besprechen – entweder telefonisch oder persönlich – und sagen: „Mir geht’s wieder gut, ich bin eigentlich wieder einsetzbar und belastbar.“ Das kann ich machen – das wäre möglich. Aber da muss Klarheit im Betrieb herrschen, weil das ein Thema ist, das ich fast in jedem Seminar höre, wo dieses Thema bewegt wird. Es muss angesprochen werden. Es muss klar gesagt werden: Wie gehen wir hiermit um? Was geht – und was geht bei uns nicht?
Moderator:
Und ich finde auch: Gerade Führungskräfte sollten das vorleben. Ich erinnere mich an eine ganz große Remote-Veranstaltung damals – unser Bundesfinanzminister war bei einer ganz wichtigen Veranstaltung seiner Partei krank geworden. Aber er hat sich nicht krankgemeldet, er hat diese Sitzung geleitet. Und da gab es dann noch Bilder davon – man sah auf großen Videoleinwänden: hochroter Kopf, rote Augen, der Schweiß lief von der Stirn. Es sah elendig aus – und man dachte gleich: Ach du liebe Güte, bleib im Bett!
Was lebst du denn da vor – auch wenn du ein wichtiges Amt hast, in einer wichtigen Funktion in deiner Partei bist? Das kann man so nicht vorleben. Da war ich echt angenervt, dass er quasi übermittelt hat: „Guck mal, ich bin richtig krank – aber ich arbeite trotzdem.“
Andreas Kummer:
Also, du hast völlig recht – es geht um Vorbildfunktion. Einmal im Betrieb natürlich, das zum Thema machen – in dem Rahmen. Und jeder Mensch ist ersetzbar, das sage ich natürlich auch immer dazu. Und mit dem Blick: Klar muss die Arbeit auch verteilt werden. Aber es ist eben wichtig: Wenn wir krank sind, dann brauchen wir die Genesungs- und Regenerationszeit – um nichts zu verschleppen, um wieder fit und einsatzfähig zu sein. Die Kolleginnen und Kollegen – und auch die Führungskräfte – sind noch viel dankbarer, wenn ich wieder voll einsatzfähig bin. Und nicht, dass die Führungskraft im Sinne ihrer Vorbildfunktion ständig schauen muss, ob der Mitarbeitende so belastet ist, dass das Maß an Arbeit noch zu erfüllen ist. Also das ist wirklich eine klare Botschaft – da sollte man klar mit umgehen. Und so wie dein Beispiel war: Vorbildfunktion ist da wichtig.
Moderator:
Und dann können wir vielleicht gleich noch mit einem anderen Mythos in diesem Zusammenhang aufräumen. Jetzt habe ich ja eben gerade gelernt, dass die Krankschreibung vorläufig ist. Und wenn es zum Beispiel besser geht, ich das so einschätzen kann, dann arbeite ich eben auch schon wieder früher – weil ich werde es davon abhängig machen, ob ich jetzt mit der Serienstaffel durchgekommen bin oder nicht. Und was passiert aber jetzt, wenn ich noch offiziell krankgeschrieben bin, früher arbeite und dann auf dem Weg zur Arbeit einen Unfall baue? Weil: „Oh nein, ich habe ja diese Krankschreibung. Und jetzt habe ich gearbeitet und einen Unfall gebaut.“ Versicherungstechnisch schwierig – oder doch gar nicht?
Andreas Kummer:
Auch das ist eigentlich geklärt – und das ist natürlich ein Versicherungsthema. Du kommst immer auf den individuellen Fall an. Aber wenn ich für mich geklärt habe – so wie ich es vorhin gesagt habe – also: Wer sich trotz Krankschreibung wieder fit fühlt, darf ohne weiteren Arztbesuch an seinen Arbeitsplatz zurückkehren. Ich kündige das an, ich sage: „Es geht, ich fühle mich wohl. Ist das in Ordnung, wenn ich komme?“ Ich bin da auch versichert – auch wenn mir dann etwas passiert, in dem Rahmen. Das eine wäre die Krankenversicherung, die natürlich weiterläuft, und das andere wäre dann die Unfallversicherung. Und das muss dann geprüft werden: Was war das genau? Ja, also das wird dann ein Versicherungsfall, der geprüft werden muss.
Moderator:
Könnte man natürlich dann auch sagen: Na, doch noch nicht ganz fit gewesen – deswegen ist der Unfall passiert. Also vielleicht doch lieber noch mal eine Nacht länger im Bett bleiben und das dann auskosten. Andreas, danke dir für deine Einschätzung. Drei Mythen – drei Aha-Momente. Was ich heute mitnehme: Nicht alles, was man riecht, ist gefährlich – und nicht alles, was gefährlich ist, kann man riechen. Psychische Belastungen lassen sich sehr wohl erfassen – wenn man es richtig angeht. Und: Krankschreibung ist kein Käfig – allerdings auch kein Freifahrtschein. Vielleicht doch lieber mal die Füße hochlegen – denn für alle gibt es irgendwie einen Ersatz. Also vielen Dank für die Aufklärung dieser Mythen.
Andreas Kummer:
Ich danke dir, Ralf. Und das Wichtigste ist immer – und so beende ich eigentlich auch alle Veranstaltungen, bei denen ich unterwegs bin: Bleibt gesund – das brauchen wir, das ist ganz wichtig. Und bleibt neugierig – das gehört auch dazu. Und vielen Dank, dass ich bei dir sein durfte.
Moderator:
Sehr gerne wieder! Und übrigens noch ein Fun Fact: Der Mann, der jetzt für Sicherheit und Gesundheit zuständig ist und sich da genau auskennt – der fährt privat gerne Motocross und ist mit seinen mehreren krassen Motorrädern auf den Gipfeln unterwegs. Irgendwie. Aber alles mit Bedacht, ne?
Andreas Kummer:
Ja, so ist das. Also: Da ganz geduldig mit sich sein – und mit Gelassenheit das alles angehen. Das gehört dazu.
Moderator:
Viel Freude dabei – auf jeden Fall! Auch wenn euch diese Folge gefallen hat, dann hört gern auch in unsere Reihe zu den Gesundheitsmythen rein. Dort beantwortet Dr. Natasha Schlothauer Fragen wie: „Helfen Vitaminpräparate gegen Erkältungen?“ oder „Macht zu viel Bildschirmzeit die Augen kaputt?“ Die Links zu den Folgen findet ihr zum Beispiel in den Show-Notes dieser Podcast-Folge – und natürlich jederzeit auf www.bgw-online.de/podcast. Selbstverständlich auch auf allen Podcast-Plattformen eurer Wahl. Empfiehlt Herzschlag auch gern weiter – an Kolleginnen und Kollegen, Führungskräfte oder alle, die im Arbeitsalltag Verantwortung für Gesundheit tragen. Und natürlich: Abonniert diesen Podcast, damit ihr keine neue Folge verpasst. Bis zum nächsten Mal – und ich komme auf Andreas’ Motto zurück: Bleibt gesund!
Jingle:
Herzschlag! Für ein gesundes Berufsleben, der BGW-Podcast.
Interviewgast
Andreas Kummer
Geschäftsführer Motio GmbH Berlin,
Berater für die Mitgliedsbetriebe der BGW,
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