Demenz: Vereinbarkeit von Beruf und Pflege - Teil 1 #63 BGW-Podcast "Herzschlag - Für ein gesundes Berufsleben"
Pflege zu Hause oder Pflegeheim? Eine Frage, vor der viele Menschen stehen, die pflegebedürftige Angehörige haben. Der Großteil wird tatsächlich zuhause versorgt – meist allein durch Familienmitglieder.
In dieser Folge wollen wir über die Doppelbelastung sprechen, wenn berufstätige Angehörige Job und Pflege im Alltag miteinander verbinden müssen. Dazu sprechen wir mit Sabine Lohr. Sie arbeitet in der Pflegeberatung und ist zertifizierte Sachverständige.
Hier kommen Sie zum Transkript dieser Folge
Moderator: Pflege zu Hause oder im Pflegeheim? Eine Frage, vor der viele Menschen stehen, die pflegebedürftige Angehörige haben. Der Großteil wird tatsächlich zu Hause versorgt. Meist allein durch Familienmitglieder. Welche Herausforderungen das vor allem bei demenzerkrankten Menschen mit sich bringt, hören sie in der nächsten Podcast-Folge „Umgang mit Demenz – Tipps für Pflegekräfte und Angehörige“. Heute sprechen wir über die Doppelbelastung, wenn berufstätige Angehörige Job und Pflege im Alltag miteinander verbinden – ja, vereinbaren müssen.
Eine besondere Herausforderung, vor allem auch dann, wenn man sogar beruflich bereits mit Demenzerkrankten zu tun hat. „Herzschlag“ widmet dem wichtigen Thema Demenz also zwei Podcast-Folgen. Na, dann fangen wir mit der ersten doch mal an. Ich bin Ralf Podszus und ich freue mich, dass sie mit dabei sind.
(Podcast-Opener)
Moderator: Wer sich beruflich um Demenzerkrankte kümmert und auch privat jemanden pflegt, steht vor einer besonderen Herausforderung und hat vor allem dauerhaft viel Verantwortung und durchaus belastende Stunden. Es gibt jedoch auch Möglichkeiten, aus der Zeit mit der Krankheit wertvolle und erfüllte gemeinsame Jahre zu machen. Dazu spreche ich jetzt mit Sabine Lohr. Sie arbeitet in der Pflegeberatung und ist zertifizierte Sachverständige. Guten Tag, Frau Lohr.
Sabine Lohr: Guten Tag, Herr Podszus. Vielen Dank für die Einladung.
Moderator: Sehr gerne. Ja, wie spreche ich jetzt am besten mit demenzerkrankten Personen?
Sabine Lohr: In allererster Linie langsam. Langsam, mit viel Geduld, in einem langsamen Tempo mit Pausen in der Kommunikation, damit der Demenzerkrankte mit seinen Gedanken hinterherkommen kann. Ganz wichtig ist aber auch, so finde ich, der Respekt. Dass man den Respekt vor diesem Menschen nicht verliert, der hinter seiner Krankheit so verloren geht. Also, dass man auch immer den Menschen im Blick hat, der er war, der er vielleicht nicht mehr so in dem Sinne ist. Aber dass man eben sehr respektvoll mit den Menschen kommuniziert.
Anerkennung und Wertschätzung sind in der Demenz eine wichtige Grundlage, damit die Kommunikation auch friedlich stattfinden kann und man sich nicht ständig angeht. Man muss den Demenzerkrankten auch so ein bisschen auf seiner Ebene abholen. Also die Realität verändert sich häufig in der Demenz. Und wenn ich mit meiner kognitiven Ebene ankomme und immer versuche, indem ich frage: Ja, warum weißt du das denn nicht mehr? Oder: Das hast du doch gemacht, oder? Das haben wir doch erlebt – dann versuche ich immer wieder, den Erkrankten auf meine Ebene zurückzuholen, was aber nicht gelingen kann, weil das genau die Demenz ausmacht. Also viel besser ist es, oder viel sicherer ist es, sich auf die Erlebnisebene des Erkrankten zu begeben, um da in die Kommunikation mit ihm gehen zu können.
Moderator: Hilft da auch Körpernähe? Also die Hand halten, bisschen streicheln, näherkommen oder kann das auch wieder genau falsch sein?
Sabine Lohr: Es kommt sicherlich auf die eigene Geschichte an. Also ich glaube nicht, dass man, also man muss ausprobieren. In der Demenz ist es häufig so, dass Dinge sich verstärken. Aber es können eben auch komplette Wesensveränderungen auftreten, also Menschen, die früher vielleicht Nähe gebraucht haben, brauchen sie dann vielleicht nicht mehr so sehr. Also auch das ist wie ganz, ganz viele Dinge in der Demenz sehr individuell zu betrachten. Was gut helfen kann, sind so Erinnerungsgeschichten, Erinnerungsarbeit, schöne Erlebnisse Revue passieren zu lassen, miteinander darüber in Kommunikation zu kommen. Mehr über die Vergangenheit, denn da ist der Demenzerkrankte mehr zu Hause als in der Gegenwart. Die gegenwärtigen Sachen werden immer mehr wegbrechen und immer weniger relevant werden. Aber es gibt auch so eine Art Gefühlsgedächtnis. Auch darüber kann man kommunizieren, wo über diese Gefühlsarbeit viel ausgedrückt wird, und viel erklärt wird, auch was in dem Demenzerkrankten vorgeht. Damit man eben wieder eine gute Kommunikation hinkriegen kann auch in Zeiten, wo die Kommunikation doch schon sehr gestört ist.
Moderator: Können Sie da ein kurzes Beispiel geben?
Sabine Lohr: Wir haben offensichtlich nicht nur ein kognitives Gedächtnis, sondern auch ein Gefühlsgedächtnis. Zum Beispiel, wenn Sie nach drei Wochen aus dem Urlaub kommen und machen zu Hause die Haustür auf, dann ist das so: Hmm, ah, riecht wie zuhause, ne? Und so sind viele gerade Riecherinnerungen mit Erinnerungen direkt verknüpft, also wenn Sie Zimt riechen und Glühwein, dann sind Sie sofort bei Weihnachten. Das geht, ohne dass über das kognitive Gedächtnis zu machen. Das ist ein direktes Gefühlsgedächtnis und dieses Gefühlsgedächtnis nimmt offensichtlich keinen Schaden in der Demenzerkrankung, sondern bleibt einfach da. Und darüber kann man, wenn die verbale Kommunikation irgendwann nicht mehr funktioniert, den Erkrankten besser erreichen. Indem man mit Gefühlen kommuniziert, also dem Streicheln von Tieren oder Sand durch die Finger rinnen lassen, Plätzchenteig kneten, alles, was mit Geruch, Gefühl zu tun hat oder mit haptischen Erfahrungen oder eben anderen Gefühlsgedächtnis-Geschichten. Dadurch kann man in Kommunikation gehen.
Moderator: Ja, das sind Erinnerungen, die bekommt der Kopf dann einfach nicht mehr weg, weil das einfach so abgespeichert ist. Für immer bleibend, sehr schöne Beispiele. Ich kann das auch von mir so ein bisschen nachempfinden. Eine Zeit lang habe ich mir immer auf dem Rückweg damals abends im Zug immer noch so einen Schokoriegel gegönnt und das war eine ziemlich lange Phase, wo ich das gemacht hab und dann irgendwann nicht mehr. Aber das ist so, wenn ich heutzutage noch in den Zug steige – und das muss ich sehr oft –, dann beim Einsteigen durch die Tür sagt mein Kopf mir schon: Schokoriegel! Das ist einfach damit verbunden: Zug fahren, Schokolade essen.
Sabine Lohr: Das ist eine Art der Konditionierung, ja, aber so in der Art funktioniert das auch mit unserem Gedächtnis. Ich habe das Mal beobachtet in einer Tagespflege, wo Frauen, die schon sehr weit fortgeschritten waren in der Demenz, so Handtücher gefaltet haben. Und man merkte allein mit dem Streichen über den Frottee und mit dem Geruch in der Nase von der frisch gewaschenen Wäsche, das machte die Frauen ziemlich glücklich.
Moderator: Einfach mehr kommunizieren, nicht nur mit der Sprache. Wir wollen uns ja die Doppelbelastung anschauen, das machen wir jetzt mal. Wie sieht denn die Doppelbelastung für Pflegerinnen und Pfleger aus und wie können sie diese Doppelbelastung stemmen? Wie achten sie am besten auf sich?
Sabine Lohr: Also die Doppelbelastung von Pflegerinnen und Pflegern sieht so aus, dass sie morgens halt mit dem Thema Demenz unter Umständen im Pflegeheim schon konfrontiert werden oder auch im Krankenhaus und am Feierabend eben auch wieder und man aus diesem Thema überhaupt nicht mehr herauskommt. Demenz greift ja auch auf den Fürsorger oder auf den Pflegenden in dessen Leben mit ein. Dass die Kommunikation sehr eingeschränkt ist, dass man eben sehr viel Rücksicht nehmen muss, und da ist eben diese große Belastung, dass man in die normale Kommunikation, in das normale Leben, überhaupt nicht mehr rauskommt. Aus meiner eigenen Erfahrung in der Altenpflege kann ich sagen, wenn ich demenzkranke Patienten versorgt hatte oder Klienten versorgt hatte, dass ich dann auch immer wieder froh war, wieder rauszugehen und in die sozusagen normale Welt zurückzukehren. Wenn man dann aber nach Feierabend zu Hause eben auch noch jemanden mit Demenz versorgen muss, dann bleibt man in diesem Thema dauerhaft drin und das ist sicherlich – das sorgt für eine große Anspannung und für eine große seelische Belastung.
Moderator: Und wie kann man damit jetzt umgehen? Wie kann man das hinkriegen, dass man aus dieser Belastung oder mit dieser Belastung trotz alledem umgehen kann?
Sabine Lohr: Ja, wir haben natürlich, wenn ich beruflich schon mit Demenzerkrankten umgehe und dann zu Hause vielleicht auch noch jemanden mit Demenz pflegen muss, dann kommt man so aus dieser Kommunikation schlecht wieder raus. Also man ist tagsüber in der Arbeit damit konfrontiert und nachmittags nach Feierabend dann eben auch noch und da sind so ganz wichtige Punkte, die schon in den letzten Podcast-Folgen angesprochen wurden, natürlich die Resilienz und die Selbstfürsorge. Also Pausen machen, bewusste Pausen einbauen zwischen der Arbeit und der Pflege zu Hause. Aber auch sich selbst gut im Auge haben, sich selber gut beobachten, Selbstfürsorge ist angesagt, auch Austausch mit anderen. Dann versuchen, die Pflege nicht allein zu stemmen, sondern wirklich ein Netzwerk aufzubauen, innerhalb der Familie oder vielleicht auch außerhalb, indem man Selbsthilfegruppen aufsucht. Demenzcafés, wo man sich mit anderen Angehörigen austauschen kann, also auch der Austausch über die Erkrankung und über den Umgang damit kann sehr, sehr hilfreich sein. Aber natürlich auch – und nicht ganz am Ende – ist auch unter Umständen eine psychologische Begleitung oder eine systemische Therapie oder systemische Familienbegleitung hilfreich, wenn es eben an die eigene Belastungsgrenze geht.
Moderator: Welche Hilfestellungen geben Sie für die häusliche Pflege mit an die Hand?
Sabine Lohr: Naja, in allererster Linie ist es wichtig, sich der Leistungen der Pflegeversicherung auch zu bemächtigen. Es gibt die Möglichkeit von zusätzlichen Betreuungen zu Hause stundenweise oder von hauswirtschaftlicher Unterstützung. Da fängt‘s häufig schon an, dass sie nicht angenommen wird, weil immer irgendwie alle sagen: Das schaff ich schon alleine, das kriege ich schon hin. Aber das kann man auch gut abgeben und dafür wieder Zeit und Raum für andere Aktivitäten miteinander haben. Es gibt die Möglichkeit der Tagespflege, wo Demenzerkrankte für einzelne Tage untergebracht werden. Auch nicht nur, wenn der Angehörige berufstätig ist. Manchmal ist es auch ein schöner Punkt, dass man einfach mal einen oder zwei Tage in der Woche frei hat von der Pflege, eben sich da die Auszeit nehmen kann, die man braucht, um selbst auch wieder in das normale Leben zurückkehren zu können. Es gibt die Möglichkeiten der Kurzzeitpflege, dass man für eine vorübergehende Zeit jemanden in einer Einrichtung unterbringen kann, um selbst zum Beispiel mal Urlaub zu machen oder einfach mal eine längere Pause. Die Verhinderungspflege ist nutzbar, also, dass andere Familienmitglieder, Nachbarn, Freunde zum Beispiel den Demenzerkrankten zu Hause versorgen, während ich anderen Dingen nachgehe, sei es einem Krankenhausaufenthalt oder dass ich mal in eine Reha gehe oder zum Beispiel auch in den Urlaub fahren.
Wichtig ist, dass man die eigenen Ressourcen, so wie ich gerade schon gesagt habe, stärkt. Vor allem durch das Netzwerk Familie. Demenzkranke kann man nicht gut allein pflegen, da braucht es eine ganze Basis, ein ganzes Netzwerk. Und vielleicht kann man auch mal eine Reha für pflegende Angehörige nutzen. Auch das ist möglich, sowohl präventiv als auch kurativ kann man Rehas für pflegende Angehörige nutzen. Auch da sollte man sich beraten lassen und das vielleicht mal in Angriff nehmen. Man kann mit dem Demenzerkrankten fahren, da gibt es Einrichtungen; es gibt Einrichtungen, wo man das allein macht. Auch das kann eine schöne Auszeit sein, um einfach mal wieder zu sich selbst zurückzukommen und seine eigenen Ressourcen zu stärken.
Und auch so – ich habe es auch schon angesprochen – so eine systemische Familien- oder Generationsberatung kann durchaus hilfreich sein, dass man einfach mal schaut: Was gibt das eigene System denn her, um Kräfte wieder zu mobilisieren, um wieder zur Ruhe zu kommen und vor allem um Pausen zu bekommen?
Moderator: Mal zwei Tage am Stück frei haben, generell Urlaub machen oder auch in die Reha gehen, da waren schon viele Tipps dabei. Aber was kann ich jetzt machen, wenn ich total überlastet bin? Wo gibt es Hilfe?
Sabine Lohr: Also Sie können natürlich, wenn es um die Leistungen der Pflegeversicherung geht, kann man sich erstmal eine Pflegeberatung zu sich nach Hause holen. Sie haben einen Anspruch gegen die Pflegekasse, auf eine häusliche Pflegeberatung, sodass im häuslichen Umfeld geschaut werden kann: Braucht es noch Hilfsmittel? Gibt es vielleicht noch Anbieter, die einem noch Hilfestellung geben könnten und helfend eingreifen könnten? Man kann sich auch gut Hilfe holen in Selbsthilfegruppen. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft ist ja sehr bekannt. Auch auf der Website finden Sie sehr viele Informationen zu Veranstaltungen, Adressen von Memory Kliniken, wo also die Demenz konkret untersucht werden kann und vielleicht auch medikamentös etwas unterstützt werden kann. Sei es für die Demenz oder gegen die Demenz oder sei es auch gegen Begleiterscheinungen, wenn es sehr herausforderndes Verhalten zum Beispiel vom Demenzerkrankten gibt.
Für Rehas ist das Müttergenesungswerk tatsächlich ein guter Ansprechpartner, denn die organisieren auch präventive Rehas für pflegende Angehörige und sind da sehr gut aufgestellt in der Beratung. Systemische Berater, psychologische Unterstützung – auch das ist eine Möglichkeit, sich da selber wieder in die Kraft zu bringen und stärken zu lassen. Oder eben wirklich eine Auszeit einplanen und in dieser Auszeit den Demenzerkrankten mal eine Zeit lang von jemand anderem versorgen lassen.
Moderator: Frau Lohr, die private häusliche Pflege die ist für jede und jeden eine Herausforderung. Woran lässt sich jetzt so eine Überbelastung, ja, frühzeitig erkennen? Mitunter gesteht man sich das ja auch gar nicht ein.
Sabine Lohr: Na ja, in erster Linie sind es meistens die anderen, die einen darauf hinweisen, auf die ersten auftretenden Symptome: die ständige Gereiztheit, dass man schnell explodiert, dass man laut wird an Stellen, wo es sonst eigentlich nicht unbedingt so zum Lautwerden ist.
Moderator: Die Zündschnur wird kürzer.
Sabine Lohr: Genau, die Zündschnur wird kürzer, man wird explosiver. Erschöpfung, Antriebslosigkeit kann dann die Folge sein. Das Gefühl, zu kurz zu kommen, auch höhere Infektanfälligkeit, wenn plötzlich ein hoher Blutdruck, also alle Arten von psychosomatischen Erkrankungen. Hoher Blutdruck, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit kann durchaus auftreten. Und was leider auch nicht so selten passiert, ist die Flucht in die Sucht. Dass also der Zigarettenkonsum ansteigt oder erst auftritt. Dass Alkohol vermehrt getrunken wird oder auch Psychopharmaka oder andere Psychowirksame Substanzen zu sich genommen werden, um die ganze Sache durchzustehen. Und damit ist sicherlich keinem geholfen, wenn der pflegende Angehörige sich in der Pflege selbst schadet und dann sollte man vielleicht auch irgendwann rechtzeitig die Reißleine ziehen und doch den Einzug in ein Pflegeheim auf jeden Fall mit in Erwägung ziehen.
Moderator: Die innere Stärke, die ist sehr wichtig. Die eigene Kraft erhalten, das ist bei der Pflege von Demenzerkrankten ziemlich schwierig. Wie gelingt das trotzdem?
Sabine Lohr: Ich denke, das Wichtigste ist, die Erkrankung von den Menschen zu trennen. Also einmal den Menschen zu sehen und die Erkrankung an sich da stehen zu haben, weil dann kann man da ein bisschen weg vom Gefühl – es ist ja auch viel mit Verletzungen verbunden, mit Enttäuschungen verbunden, wenn so ein Demenzerkrankter jetzt plötzlich anfängt, böse zu werden oder übergriffig zu werden und wenn man das hinbekommt, das beides zu trennen, ist schon mal ein erster guter Schritt getan. Dass man sich die Erkrankung anschaut und auf der anderen Seite den Menschen aber nicht aus dem Blick verliert, den man ja irgendwann mal liebgehabt hat, wahrscheinlich, wenn es die Eltern sind oder auch der Ehepartner. Aber eben ganz wichtig sehe ich auch die Pausen, die man sich einrichten muss, die man wirklich auch im Kalender eintragen muss, damit man einfach sich immer wieder aus dieser Situation auch herausziehen kann und auch von außen mal wieder auf die eigene Situation blicken kann, dass man also sich feste Termine macht. Vielleicht für Sport oder für den Spaziergang mit der Nachbarin oder den Saunaabend. Das ist ganz, ganz wichtig, um solche kleinen Inseln zu finden im Alltag, um wieder in die eigene Kraft zurückzukehren. Und wenn das nicht allein klappt, dann sich eben Hilfe dabei holen, dies wieder hinzubekommen.
Moderator: Was ist da Ihr Tipp, kann da der Fernseher auch helfen? Oder wenn man sich so der Glotze ausliefert und sich ins Nirvana binged mit seinen Lieblingsserien, hilft das nicht wirklich? Ist da lieber das Treffen mit Freundinnen und Freunden und einfach mal der Spaziergang die bessere Wahl?
Sabine Lohr: Also der Spaziergang ist immer die bessere Wahl als der Fernseher völlig ohne Frage.
Moderator: Aber wenn ich mich jetzt einfach mal auf dem Sofa hängen lasse und einfach nur die Glotze da an hab.
Sabine Lohr: Auch das kann es natürlich mal sein. Erholung ist das, was ich als Erholung empfinde. Und wenn ich nach zehn Serienteilen mich besser fühle, dann ist es auf jeden Fall eine Erholung. Ich denke aber auch, dass es gut ist, die Situation nicht aus dem Blick zu verlieren, also wenn der Fernseher dazu dient, sich nur wegzubeamen aus der Situation und zu sagen: ich will hier gar nicht sein, ich gehe in meine eigene Rauschwelt oder Glamourwelt - und dann ist es sicherlich nicht so hilfreich. Wie gesagt, zur Erholung kann das mal gut sein. Wichtig ist aber auch, wirklich über die Situation zu sprechen und sich der eigenen Gefühle und Bedürfnisse auch bewusst zu werden. Das ist häufig auch so ein Thema bei pflegenden Angehörigen. Die wissen so genau, was ihr Pflegebedürftiger braucht, und verlieren aus dem Auge, was brauche ich eigentlich selber. Und also den Blick immer mal wieder nach innen zu richten, das kann ich mit Meditation machen, das kann ich machen indem ich es aufschreibe, das kann ich aber auch gut in Gesprächen machen mit der Freundin, mit einem Fachmann oder einer Fachfrau. Einfach auch mal wieder zu spüren was brauche ich eigentlich? Da ist Achtsamkeit auch ein Thema. Was hätte ich jetzt eigentlich gerne, wenn die Fee kommen würde, die jetzt den Zauberstab schwenken würde, was würde die mir herzaubern? Und dann habe ich auch wieder, kriege ich auch wieder ein Gespür für mich selbst. Denn sonst ist es natürlich so, wenn sie jahrelang einen Demenzkranken versorgen, dann sind sie am Ende selber platt und das soll sicherlich nicht das Ziel sein von häuslicher Pflege. Das Ziel sollte eigentlich sein, die Situation irgendwie so entspannt wie möglich zu gestalten, damit man eben die letzten Jahre, vielleicht auch die letzten Jahre der Zugänglichkeit noch oder die letzten Zeiten der Zugänglichkeit noch nutzen kann. Und nicht so sehr in die Konfrontation gerät oder einfach an den Rand seiner eigenen Kräfte und hinterher selbst einen Zusammenbruch erleidet.
Moderator: Wie man mit demenzerkrankten Personen spricht, haben sie ja vorhin eingangs schon erwähnt, aber was mache ich jetzt, wenn die total aggressiv werden? Denn das passiert ja leider oft.
Sabine Lohr: Na ja, was am wichtigsten ist, der Demenzerkrankte braucht einen Verbündeten. Die ganze Welt zerbröselt um ihn herum und er braucht einen Menschen, von dem er sicher ist, dass er zu einem hält. Und häufig steckt hinter dieser Aggression ja irgendetwas anderes und das wäre wichtig herauszufinden – was steckt denn da dahinter? Ja, wenn jemand böse wird, weil er meint, da hätte jemand die Socken geklaut oder das Portemonnaie – noch schlimmer –, das ist ja häufig so ein Punkt, dass man einfach auch mal das Gefühl oder der Antrieb, der dahinter ist, wertschätzt und sagt: Ich weiß, du bist ein sehr sparsamer Mensch und du hältst deine Pfennige zusammen und das ist ganz wichtig und jetzt wollen wir mal zusammen gucken, wo das Portemonnaie vielleicht sein könnte. Also nicht in die Konfrontation einsteigen, sondern vielleicht elegant das ganze umschiffen und die Aufmerksamkeit einfach in eine andere Richtung lenken. In dem Fall hätte man die Aufmerksamkeit auf der Sparsamkeit und auf dem Ordnungssinn des Menschen, der dann sein Geld zusammenhält und der jetzt ganz entrüstet darüber ist, dass er das Portemonnaie nicht mehr findet. Meistens hat er es selbst verlegt, aber es hat halt keinen Sinn, darüber zu diskutieren, dass ich es nicht verlegt habe oder dass ich es nicht weggenommen habe. Weil genau das ist das, was ich eingangs meinte mit den zwei Ebenen - das ist genau das. Die Ebene, die sich nicht mehr überwinden lässt in der Demenz. Das heißt, ich muss mich auf die Ebene des Erkrankten begeben, in seine Realität rein begeben und versuchen, seine Probleme in seiner Realität zu lösen, um eben diese Anspannung, diese Aggression daraus zu nehmen. Aber natürlich gibt es auch Fälle, die sind einfach aggressiv. Da ist die Aggression ein Teil der demenziellen Veränderung und da kann man sicherlich mit den allerbesten Gesprächstipps nichts mehr machen. Da muss man dann vielleicht doch mal zum Doktor damit gehen und gucken, ob man das irgendwie medikamentös vielleicht etwas lösen kann das ganze Problem.
Moderator: Kann man denn jetzt auch Urlaub mit den zwei Ebenen machen? Also welche Tipps haben Sie für einen Urlaub mit einem demenzerkrankten Angehörigen? Und kann dieser Urlaub auch eine Erholung für beide sein?
Sabine Lohr: Ja, es gibt sehr gute Häuser. Mir fällt spontan eins ein im Sauerland von der AWO. Die nehmen tatsächlich pflegende Angehörige und Demenzerkrankte mit auf und da werden die Demenzerkrankten tagsüber betreut in Gruppen, mit denen werden Angebote gemacht. Auch Ergotherapie und Physiotherapie. Und die pflegenden Angehörigen können mit anderen zusammen wandern gehen oder Gesprächskreise haben oder ähnliche Aktivitäten unternehmen. Also wenn man da ein bisschen auf die Suche geht im Internet, da wird man tatsächlich fündig. Es gibt immer mehr Häuser, die sowas anbieten, wenn die Demenz noch nicht so weit fortgeschritten ist. Sie kennen vielleicht alle den Film „Honig im Kopf“ – gut, so sollten Sie es vielleicht nicht machen, wie die Kleine, die mit ihrem Großvater nach Italien fährt, aber die Idee in die Vergangenheit …
Moderator: Und auch nicht jeder möchte vielleicht mit Didi Hallervorden nach Italien.
Sabine Lohr: Auch das nicht. Aber die Idee, an einen Ort der Vergangenheit zu reisen, der mit guten Erinnerungen verknüpft ist und der schöne Erinnerungen birgt, das kann sicherlich auch eine gute Idee sein. Man muss das Ausprobieren. Wissen Sie, jeder Demenzerkrankte ist wirklich ganz individuell erkrankt und die einzige Gemeinsamkeit, die sie haben, ist, dass sie den Alltag nicht mehr regeln können und zunehmend diese Alltagstauglichkeit verloren geht. Wie die Auswirkungen im Einzelnen sind, das kann sehr, sehr unterschiedlich sein und da muss man sehr individuell überlegen. Da kann zum Beispiel eine Pflegeberatung dabei helfen, das vielleicht herauszufinden, was gut wäre.
Moderator: Und das sind die sehr wichtigen und schönen Tipps von der Pflegeexpertin Sabine Lohr. Vielen Dank.
Sabine Lohr: Sehr gerne.
Moderator: Heute gab es jede Menge Tipps zum Umgang mit demenzerkrankten Menschen. Auch wieder in der nächsten Podcast-Folge „Umgang mit Demenz – Tipps für Pflegekräfte und Angehörige“. Es gibt einige kleine Stellschrauben und Rädchen, die gedreht werden können, damit die Pflege nicht zur Belastung wird, vor allem bei gleichzeitiger Berufstätigkeit.
In den Shownotes dieser Podcast-Folge finden Sie einige ergänzende Links zu diesem Thema. Ja, und alle Folgen zum Nachhören gibt es überall, wo es Podcasts gibt und auf www.bgw-online.de/podcast. Damit verabschiede ich mich für heute. Tschüss und bis zum nächsten Mal.
(Outro: Herzschlag - für ein gesundes Berufsleben. Der BGW-Podcast.)
Interviewgast
Sabine Lohr
Pflegeberaterin und zertifizierte Sachverständige
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