Physiotherapeut steht neben einer Behandlungsliege, auf der ein Patient liegt. Er greift mit einer Hand das Fußgelenk und mit der anderen das Knie des Patienten und hält das Bein im rechten Winkel.

Physiotherapie: Mit Arbeitsschutz zum erfolgreichen Unternehmen BGW magazin - 4/2023

Physiotherapeutische Praxen sind gefragt. Rund 47.000 Unter­nehmen sind bei der BGW versichert, die meisten haben nur wenige Beschäftigte. Wie steht es um den Arbeitsschutz?

Im Interview

Dr. Karin Schaefer ist als Aufsichtsperson in der BGW-Bezirksstelle München tätig. Sie besucht häufig Unternehmen und kennt typische Fragestellungen zum Arbeitsschutz vor Ort.

Alexander Roth ist angehende Aufsichtsperson in der BGW-Bezirksstelle Würzburg und hat zuvor als Physiotherapeut in verschiedenen Praxen gearbeitet.


Arbeitsschutz im Kleinbetrieb: Was ist anders als in größeren Unternehmen?

Junge Frau in weisser Arbeitskleidung sitzt und schreibt etwas in eine Akte. Im Hintergrund hängt ein Anatomie-Poster an der Wand.

Sicheres und gesundes Arbeiten bewusst und mit System organisieren, bedeutet langfristig den Erfolg des Unternehmens garantieren.

Dr. Karin Schaefer: Vor allem ist die Betreuung durch eine Fachkraft für Arbeitssicherheit und eine Betriebsärztin oder einen Betriebsarzt nicht so präsent. Weil es kleine Betriebe sind, kommt seltener jemand vorbei. Und manchmal ist auch gar keine Arbeitsschutzbetreuung organisiert. Es fehlt das Bewusstsein dafür – und im Umkehrschuss dann auch wieder das Know-how dieser Fachleute, die eine wichtige Unterstützung für alle Arbeitsschutzthemen sind.

Alexander Roth: In physiotherapeutischen Praxen habe ich oft erlebt, dass der Fokus kaum auf dem Arbeitsschutz liegt. In der Branche ist viel Wechsel, es gibt zahlreiche Praxen. Das Thema Arbeitsschutz steht angesichts von Existenzgründungen und Personalsuche hintenan. Es kommt auch bei Praxisübernahmen meist nicht zur Sprache. Dabei ist der Arbeitsschutz ein zentraler Baustein auf dem Weg zum starken Unternehmen. Wer bewusst auf sicheres und gesundes Arbeiten hinwirkt, verschafft sich wichtige Handlungsspielräume für den Erfolg der eigenen Praxis.

Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit sind unverzichtbar. Wo fängt man an?

Schaefer: Die erste Frage sollte sein: Wer kann mich unterstützen? Bei der Arbeitsschutzbetreuung gibt es verschiedene Modelle. Unternehmerinnen und Unternehmer können sich selbst stärker einbringen und Schulungen besuchen. Oder sie setzen verstärkt auf die Betreuung durch Fachleute. Vor allem ist deren Unterstützung dann für die Gefährdungsbeurteilung wichtig. Diese ist nämlich der zweite unerlässliche Punkt. Ich mache oft die Erfahrung, dass Gefährdungen für Beschäftigte durchaus in den Blick genommen werden. Allerdings passiert das nur im Kopf; es fehlen die Systematik und die Dokumentation. Ein Seminarbesuch oder die Fachkraft für Arbeitssicherheit können helfen, das zu vervollständigen.

Was ist bei der Gefährdungsbeurteilung zu beachten?

Schaefer: Die Grundüberlegung ist: Welche Gefährdungen gibt es in meiner Praxis für meine Mitarbeitenden? Was muss ich tun, damit sie gesund arbeiten können? Für die erforderliche Dokumentation gibt es übrigens keine Vorschrift, wie sie aussehen soll. Die BGW bietet Hilfen an, aber die Praxen können hier auch eigene Lösungen finden. Ich sage Unternehmerinnen und Unternehmern oft: "Überlegen Sie sich, wie Sie sicherstellen können, dass eine Vertretung schnell alle Infos erhält, falls Sie einmal ausfallen. Und dann fragen Sie sich, was die Mitarbeitenden wissen müssen. Das wiederum bringt Sie zur Unterweisung. Die informiert Mitarbeitende zum Beispiel, wo besondere Gefährdungen sind – und was dagegen zu tun ist. Auch die Unterweisung ist Pflicht. Beim Arbeitsschutz handelt es sich also vorrangig um einen Dreiklang aus Arbeitsschutzbetreuung, Gefährdungsbeurteilung und Unterweisung. Damit kommen Sie schon sehr weit."

Roth: Klar ist ja auch, dass eine therapeutische Praxis keine Holzwerkstatt oder Ähnliches ist. Es gibt nicht diese vielfältigen akuten Risiken wie in manch anderen Tätigkeitsfeldern. Natürlich gibt es auch in der Physiotherapie Knackpunkte, wie etwa energetisch höhenverstellbare Therapieliegen, die besonderes Augenmerk verlangen. Aber es handelt sich vor allem um Gefährdungen, die sich über längere Zeit aufbauen, wie Haut-, Muskel-Skelett- oder psychische Belastungen.

Dafür ist die Physiotherapie doch eigentlich gut gerüstet …?

Roth: Man könnte meinen, dass das therapeutische Know-how dafür sorgt, dass alle auch auf sich selbst achtgeben. Zum Beispiel ergonomisch arbeiten, um Muskel-Skelett-Belastungen zu minimieren. Doch oft ist der Fokus fast nur auf die Patientinnen und Patienten ausgerichtet. Die Ratschläge wendet man für sich selbst nicht an. Ich hatte sogar wiederholt ehemalige Mitarbeitende in der Behandlung – das sollte nicht sein …

Schaefer: … und schon deshalb muss die Führungskraft Vorbild sein und gesundes Arbeiten vorleben! Beschäftigte sind ein hohes Gut. Es liegt im Interesse der Unternehmerin oder des Unternehmers, dass niemand wegen arbeitsbedingter Gesundheitsbelastungen ausfällt, womöglich sogar längerfristig. Das ist ja besonders im  Kleinbetrieb problematisch.

Wir haben schon die Therapieliegen erwähnt. Warum zeigt das Beispiel eindrücklich, dass Gefährdungen am Arbeitsplatz systematisch unter die Lupe genommen werden müssen?

Schaefer: Es gab leider schon mehrere schwere, auch tödliche Unfälle. Zum Beispiel ist eine Reinigungskraft auf den Auslösemechanismus gekommen und wurde im Scherenhubmechanismus eingequetscht, ohne die Möglichkeit, sich zu befreien. Was passieren kann, hängt sehr stark vom individuellen Gerät ab. Daher muss das unbedingt im Zuge der Gefährdungsbeurteilung genauer angesehen werden.

Was lässt sich tun?

Schaefer: Ziel ist ja, dass nichts passieren kann. Das ist vor allem der Fall, wenn die Liege schon konstruktionsbedingt keine problematischen Quetsch- und Scherstellen aufweist. Bei der entsprechenden Normung tut sich gerade viel. Und wer in den Praxen auf Nummer sicher geht und Geräte austauscht oder nachrüstet, kann sogar eine Förderung der BGW dafür erhalten. Allerdings nur, wenn danach die Sicherheit über dem gesetzlich geforderten Maß liegt, das ist wichtig. Ziel ist es, dass nicht nur das unbeabsichtigte In-Gang-Setzen der Liegen verhindert wird, sondern auch Gefährdungen durch Quetschungen bei der beabsichtigten Betätigung reduziert werden.

Es ist aber nicht immer gleich nötig, Geräte auszutauschen …

Schaefer: Deshalb ist die Gefährdungsbeurteilung wichtig. Selbst wenn nachgerüstet wurde, bedarf es zum Beispiel immer auch einer organisatorischen Einbindung. Mitarbeitende und Dritte vor Ort müssen erfahren, wie sie sicher mit den Liegen umgehen können. Wir helfen Betrieben natürlich, wenn sie nicht weiter­kommen.

Welche Standardthemen kommen bei der Gefährdungsbeurteilung noch zur Sprache?

Physiotherapeutin steht hinter einem sitzenden Patienten - sie hat eine Hand an seinem Rücken, die andere an seiner Seite

Auch wenn die gute Versorgung von Patienten und Patientinnen im Fokus steht: die eigenen Gefährdungen sollten nicht vernachlässigt werden.

Schaefer: Erste Hilfe, Brandschutz, elektrische Geräte, Sturz- und Stolpergefahren zum Beispiel … und auch das Thema Wegeunfälle. Zwar können Unternehmen hier wenig direkt beeinflussen, aber sie können Beschäftigte zumindest für die Sicherheit im Verkehr sensibilisieren. Mein Tipp ist, den Kostenzuschuss der BGW für Mobilitätstrainings zu nutzen und Mitarbeitende zu Fahrsicherheitstrainings mit dem Auto oder dem Rad anzu­melden.

Roth: Man sollte nicht vergessen, das Team bei der Gefährdungsbeurteilung einzubeziehen. Das hilft ungemein! Die Gefährdungsbeurteilung liegt zwar in der Verantwortung des Unternehmers oder der Unternehmerin. Sie ist aber ein Gemeinschaftsprojekt, bei dem alle ihre persönlichen Erfahrungen einbringen sollen. Wo hakt es? Wie könnten wir das verbessern? Das ist ein kontinuierlicher Prozess, nicht eine einmalige Sache.

Schaefer: Vielleicht gibt es ja einen regelmäßigen Tagesordnungspunkt in der Teambesprechung.

Physiotherapeutische Praxen werden in nächster Zeit verstärkt von der BGW angesprochen. Was steckt hinter dieser Initiative?

Schaefer: Unser Auftrag ist es, Unternehmen zu überwachen und zu beraten. Natürlich müssen wir sicherstellen, dass Vorgaben eingehalten werden. Wir bieten aber auch Unterstützung. Zwar werden wir nicht die Gefährdungsbeurteilung für sie machen, aber wir können ihnen helfen, zentrale Fragen zu klären und geeignete Lösungen zu finden. Sie können uns auch anrufen. Je nach Bedarf kommen wir auch in die Betriebe. Diese Angebote sind jedoch nicht ausreichend bekannt. Deshalb machen wir verstärkt über Verbände und ähnliche Wege auf wichtige Themen und die BGW als Ansprechpartnerin aufmerksam.

Roth: Die BGW hält viele Unterstützungsangebote bereit, von Seminaren bis zu Handlungshilfen, auch zur Gefährdungsbeurteilung oder zur Arbeitsschutzbetreuung. Zu Letzterer ein paar Tipps, die wir Unternehmerinnen und Unternehmern oft geben: "Suchen Sie sich eine Fachkraft für Arbeitssicherheit (Sifa), die sich idealerweise mit Ihrem Tätigkeitsbereich, also der Physiotherapie, schon etwas auskennt. Vergleichen Sie mehrere Angebote und achten Sie darauf, dass Sie auch Unterstützung vor Ort erhalten. Fordern Sie aktiv Hilfe ein, vor allem bei der Gefährdungsbeurteilung! Auch die Sifa macht nicht die Gefährdungsbeurteilung für Sie, aber sie sorgt zum Beispiel dafür, dass Sie nichts vergessen."

Von: Anja Hanssen