Eine Hand quetscht einen Ball, auf den ein gequältes Gesicht gemalt ist.

Gewaltprävention heißt Sicherheit schaffen

#GewaltAngehen fordert eine aktuelle Präventionskampagne, die den Blick unter anderem auf Einsatzkräfte und Notaufnahmen lenkt. Der Umgang mit Aggressionen, angedrohter oder tatsächlicher Gewalt gegen Beschäftigte ist auch anderswo ein wichtiges Handlungsfeld. Ein Bericht aus einer Jugendhilfeeinrichtung, die mit viel Engagement und langem Atem Gewaltprävention zum gelebten Alltag werden lässt.

In der Evenius Sonnenstrasse GmbH im mittelhessischen Biebertal gibt es einen "Fan". Sagt zumindest Peter Strietzel über seine Motivation als Leiter der AG Gewaltprävention und Deeskalationstrainer. Mit einer Kollegin schult er die rund 90 Mitarbeitenden zum Umgang mit Aggressionen und Gewalt. Die Einrichtung der Jugend- und Erwachsenenhilfe bietet rund 160 bis 170 Klientinnen und Klienten Unterstützung, vor allem im Bereich Eingliederungshilfe für Menschen mit Handicaps, psychischen Erkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen. Drei Wohnheime, das "Trainingswohnen", das "Betreute Wohnen" und eine externe Tagesstruktur – wie der arbeitspädagogische Bereich heute heißt – stehen für junge Menschen ab 14 Jahren bis etwa Anfang 30 zur Verfügung. Körperliche Übergriffe erlebt das Team dabei glücklicherweise selten.

In der Jugendhilfe geht es oft um das Einhalten von Regeln, zum Beispiel beim Taschengeld, erzählt Strietzel. Da kann es schon mal zu Eskalationen kommen. Aber das sind eher Aggressionen, Manipulationen, Androhungen von Gewalt. Diese Situationen entstehen aus dem Alltagsgeschehen oder angesichts von Überforderung in Gruppen. Was auch vorkommt: Gegenstände werfen, Türen knallen, sich aufbauen.

In der Jugendhilfe geht es oft um das Einhalten von Regeln, zum Beispiel beim Taschengeld.

Porträt Peter Strietzel
Peter Strietzel, Evenius Sonnenstrasse GmbH
Leiter AG Gewaltprävention und Deeskalationstrainer

Ziel: systematischer Arbeitsschutz

Dass sich die Einrichtung intensiv mit dem Thema Gewaltprävention beschäftigt, ist nicht auf ein konkretes Ereignis oder viele Vorfälle zurückzuführen. Unser Sicherheitsbeauftragter und die Geschäftsführung haben sich allgemein damit befasst, ob wir alle Anforderungen hinsichtlich des Arbeitsschutzes erfüllen. Das sah zwar gut aus, aber manches war nicht ausreichend systematisiert und verschriftlicht. Als es um einen Notfallplan für kritische Situationen und Gewaltereignisse ging, erkannte man in der "Sonnenstrasse" schnell, dass es auch Handlungsbedarf bei der Prävention gab. Es soll ja gar nicht erst zum Notfall kommen, sagt Strietzel. Anfang 2020 wurde er gefragt, ob er eine Ausbildung zum Deeskalationstrainer machen würde. Seitdem hat sich viel getan. Kürzlich hat er sogar seine bisherige Position als Leiter "Trainingswohnen" abgegeben und wird sich künftig verstärkt Bildungsthemen im Unternehmen widmen, gerade auch im Hinblick auf die Gewaltprävention.

Erfolgsfaktoren für die Gewaltprävention

Erfolgsfaktoren Gewaltprävention

Strietzels erster Tipp für Betriebe, in denen der Umgang mit Gewalt bearbeitet werden soll, stammt gar nicht von ihm: Einer unserer Bereichsleiter hat gesagt, dass es dafür "Fans" braucht. Leute, denen das womöglich sogar eine Herzensangelegenheit ist. Leute wie Peter Strietzel, der bestätigt: Es ist in jedem Fall ein zentraler Erfolgsfaktor, wer sich um das Thema kümmert und welche Struktur dafür geschaffen wird. Bewährt habe sich auch die Entscheidung, über die BGW eine externe Organisationsberaterin zu engagieren. Sie hat uns viele Impulse geben können.

Das Unternehmen aus Biebertal erarbeitete ein Gewaltpräventionskonzept als Dreh- und Angelpunkt für den  Umgang mit Aggressionen und Gewalt. Erster Schritt war die Analyse von Gewaltvorfällen. Ein Fragebogen half dabei. Das Feedback zeigte, dass da mehr war, als im normalen Arbeitsalltag, in Team- oder Bereichsleitersitzungen auftauchte, berichtet Strietzel. Wir haben zunächst eine Definition entwickelt, was bei uns in der Einrichtung konkret unter Gewalt zu verstehen ist.

Von Anfang an wurden die Mitarbeitenden einbezogen – beispielsweise indem die Gewaltdefinition im Intranet zur Diskussion gestellt wurde. Als das Konzept in die Praxis überführt werden sollte, ergab eine Online-­Befragung wichtige Ansatzpunkte für das weitere Vor­gehen. Eigentlich wussten alle, dass wir ein Gewaltpräventionskonzept hatten. Nur war ihnen oft nicht klar, wie es zum Einsatz kommen sollte. Es zeigte sich, dass das Instrument Unterweisung bislang fehlte. Erst mit der Unterweisung werden alle in den Teams verbindlich informiert, wie die Abläufe sind, wie die Nachsorge bei Vorfällen geregelt ist, erklärt Peter Strietzel.

Das Ziel, Sicherheit für alle zu schaffen, spiegelt sich im Konzept wider. So werden verschiedene Gruppen einzeln betrachtet – zum Beispiel pädagogisches Personal im direkten Kontakt zu den Klientinnen und Klienten, Beschäftigte der Technischen Dienste oder Reinigungskräfte. Auch die Verantwortungsbereiche der Leitungskräfte und der Geschäftsführung können alle nachlesen und einfordern, betont Strietzel. Für jede Gruppe werden Regelungen und Zuständigkeiten auf drei Ebenen festgelegt: Zum einen für die primäre Prävention – also das alltägliche Handeln. So ist beispielsweise auch der Reinigungsdienst stets per Handy über einen eigens entwickelten Messengerdienst untereinander verbunden. Zum anderen geht es auf der Ebene der sekundären Prävention um das Vorgehen in akuten Krisen – die Kommunikation, das Anwenden von Kriseninterventionstechniken, den Notfallplan. Handlungsleitend ist ein Entscheidungsbaum für "Reaktionen auf verletzendes Verhalten". Die tertiäre Prävention regelt schließlich, was nach einem Vorfall zu tun ist – insbesondere Hilfsangebote für die Betroffenen, Dokumentation, Nachbesprechungen, gegebenenfalls Stellen einer Strafanzeige.

Eng verknüpft ist das Konzept mit den Deeskalationstrainings für die Mitarbeitenden, die Peter Strietzel mit einer zweiten zusätzlich qualifizierten Kollegin durchführt. Alle werden geschult. Und es gibt regelmäßige Auffrischungen. Die Trainings setzen den Fokus auf Prävention und Verhindern einer Eskalation, es geht nur zu einem kleinen Teil um Abwehrtechniken.

Beim Einführen des Konzepts zur Gewaltprävention habe es so gut wie keine Stolpersteine gegeben, freut sich Strietzel. Nur zwei Hürden mussten überwunden werden: Die Covid-19-Pandemie sorgte erst einmal dafür, dass Termine und Schulungen ausfielen. Und dann gab es personellen Wechsel im Team für die Deeskalationstrainings. Anfangs habe ich mir nicht zugetraut, diese auch alleine durchzuführen, schmunzelt Strietzel. Jetzt sei das kein Problem mehr, falls die Kollegin mal ausfalle.

Andere potenzielle Hindernisse wurden in der Evenius Sonnenstrasse GmbH erfolgreich vermieden: Es steht und fällt vieles mit der Unterstützung durch die Geschäftsführung. Bei uns stand der Geschäftsführer fest hinter dem Vorhaben – und nahm zum Beispiel auch am ersten Termin mit der externen Beraterin teil. Die Bereichsleitungen konnten zwar nicht so stark involviert sein wie erhofft. Doch sie haben ihre Unterstützung deutlich gemacht. Beim Nachhaltigkeitsworkshop zum Projektabschluss mit der Beraterin letzten September waren sie zum Beispiel geschlossen dabei.

Das Vorhaben begann mit dem Wunsch, Arbeitsschutzanforderungen systematisch umzusetzen. Es trägt inzwischen auch dazu bei, dass die Einrichtung eine Auszeichnung mit dem "BGW Orga-Check plus – Sicher und gesund organisiert" auf der Website bekannt machen kann. Damit verbunden ist eine Förderung in Höhe von 25 Prozent für kostenpflichtige BGW-Angebote. Diese lässt sich zum Beispiel künftig für die Qualifizierung von Deeskalationstrainerinnen und -trainern nutzen. In Biebertal griff man erstmal bei einem anderen BGW-Angebot zu und ließ sich professionell bei einer Gefährdungsbeurteilung in Sachen Gewalt begleiten. Die Auszeichnung ist auch ein Zeichen der Fürsorge für die Mitarbeitenden und hat eine Signalwirkung nach außen, erzählt Peter Strietzel weiter. Wir haben schon mitgekriegt, dass bei Bewerbungen nach solchen Dingen gefragt wird.

Auch intern ist der Wandel spürbar. Es ist nicht so, dass wir jetzt generell anders handeln. Es geht eher um eine Haltungsänderung. Heute ist der Umgang mit Aggressionen und Gewalt viel präsenter. Dazu gehöre, das Thema proaktiv in Bereichsleitersitzungen sowie in den Teams aufzugreifen. Ziel ist es, Vorfälle zu dokumentieren und systematisch auszuwerten. Auch die Leitung sollte immer wieder abfragen: ‚Gab es irgendetwas?‘ Darüber hinaus wurden schon Räumlichkeiten umgestaltet und Fluchtwege neu eingerichtet.

Die Erfahrungen der hessischen Einrichtung trägt das Team an andere weiter. Wir waren auf dem BGW-Symposium zu Gewalt und haben unser Vorgehen vorgestellt. Peter Strietzels wichtigster Tipp: Man braucht einen langen Atem. Selbst Fan des Themas Gewaltprävention zu sein, heißt ja nicht, dass andere das auch sind. Man muss die Beharrlichkeit entwickeln, das immer wieder voranzutreiben. Dann wird die Haltungsänderung im ganzen Haus spürbar.

Alle werden geschult. Und es gibt regelmäßige Auffrischungen.

Porträt Peter Strietzel
Peter Strietzel, Evenius Sonnenstrasse GmbH
Leiter AG Gewaltprävention und Deeskalationstrainer

Von: Anja Hanssen