Junge Frau mit Arm- und Beinprothesen trainiret in einem Fitness-Studio an einem großen Boxsack. Sie trägt einen FFP2-Maske.

"Jeder Schlag ist ein Befreiungsschlag!" BGW magazin - 4/2021

Rehabilitation – Inklusion – Sport: Wer nach einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit mit gesundheitlichen Folgen zu kämpfen hat, denkt zunächst kaum in solchen Zusammenhängen. Dabei kann gerade der Sport helfen, in schwierigen Zeiten Unterstützung und neue Ziele zu finden.

Ami Inthra ist enttäuscht: Leider wurde der Kölner Staffelmarathon im Oktober abgesagt. Ich hatte viel dafür trainiert! Dafür powert sie sich weiterhin regelmäßig beim Boxen aus. Das Besondere daran: Sie ist vierfach amputiert, trägt Arm- und Beinprothesen. Ursache war eine berufsbedingte Erkrankung vor rund dreieinhalb Jahren. Mit Unterstützung der BGW kam sie wortwörtlich wieder auf die Beine.

Die medizinische Fachangestellte, die in einer Praxis tätig war, erkrankte in der starken Grippesaison Anfang 2018 und lag drei Wochen im künstlichen Koma. Komplikationen sorgten dafür, dass ihre Gliedmaßen nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wurden. Eine Amputation ließ sich nicht vermeiden. Die Zeit danach war schwer, erzählt Inthra: Das reißt einem physisch wie mental den Boden unter den Füßen weg. 

Auch wenn die heute 47-Jährige auf ihre Familie zählen konnte und unter anderem BGW-Reha-Manager Moritz Eheim bei der Koordination der Heilbehandlung an ihrer Seite wusste, gab es Tiefpunkte. Über ein Jahr zog sich ihr Krankenhausaufenthalt hin. Als man ihr schon früh vorschlug, ins Gespräch mit anderen Amputierten zu kommen, war sie noch nicht bereit.

Anstoß für den eigenen Ehrgeiz

Die Wende kam, als sie sich auf ein Kennenlernen mit David Behre einließ. Er verlor selbst beide Unterschenkel und beschloss noch im Krankenhaus, Profisportler zu werden. Heute zählen Weltmeistertitel und Paralympicsmedaillen zu den Erfolgen des Sprinters. Er hat mir gezeigt, was sich alles erreichen lässt, berichtet Ami Inthra. Er war mein Lichtblick, mein Motivator. 

Junge Frau mit Arm- und Beinprothesen trainiert an einem großen Boxsack. Sie trägt eine FFP2-Maske.

Humor, Willenskraft und Ehrgeiz - diese Eigenschaften halfen Ami Inthra, sich selbst wieder Ziele zu setzen und auch andere zu motivieren.

Danach besann sie sich auf die Person, die sie schon immer war: jemand mit Humor, Willenskraft und Ehrgeiz. Ich habe mich vom Charakter her nicht verändert – vom Aussehen schon. Es geht ja alles, wenn auch langsam. Es liegt an einem selbst, was man daraus macht.

Ihr Weg führte sie in den Sport. Der Beitrag von Sport zur Rehabilitation ist kaum hoch genug einzuschätzen, sagt Moritz Eheim. Wir Reha-Manager zeigen sämtliche Mög­lichkeiten der Unterstützung auf. Helfen kann zum Beispiel auch das Projekt ‚Inklusion durch Sport‘. Ami Inthra hat dabei eine von der BGW vermittelte professionelle Sportcoachin an der Seite. Inklusive Sportprojekte bringen Menschen mit und ohne Behinderungen in Kontakt und vernetzen sie dauerhaft.

Bei Ami Inthra machte es beim Boxen "Klick". Ich habe schon früher Kickboxen als Ausdauertraining betrieben. Beim Tag der offenen Tür in der Geh- und Lauflernschule, wo ich Physiotherapie mache, kam ich dann in Kontakt mit einem Verein, der Kampfsport für Menschen mit und ohne Handicap anbietet. Jetzt muss sie aufpassen, mit der Kraft ihrer Schläge, die sie mit unempfindlichen Armprothesen für den Sport ausführt, niemanden zu verletzen. Jeder Schlag ist ein Befreiungsschlag, erzählt sie in einem Podcast, den sie für die Prothesengemeinschaft aufgenommen hat. 

Auch die Alltagsprothesen für die Beine müssen öfter futuristischen Sprintprothesen weichen. Der Ausfall des Staffelmarathons war ein Rückschlag. Bei Aufnahme des Podcast-Beitrags – ein halbes Jahr zuvor und kurz nach dem Einstieg ins Laufen – hatte sie schon verkündet, dabei sein zu wollen.

Ziel: Selbst andere motivieren

Überhaupt der Podcast: Von David Behre hat sich Ami Inthra auch in Sachen Motivation inspirieren lassen. Ich musste mir irgendwann eingestehen, dass ich auf Hilfe angewiesen bin. Das ist noch schwerer, wenn man aus einem helfenden Beruf kommt. Inzwischen hat sie ein neues Ziel gefunden: Ich kann mir gut vorstellen, über das Leben mit Prothese aufzuklären und anderen Menschen beizustehen. Ihr Engagement hat sie neben dem Podcast schon zu einem Vortrag an einer Physiotherapieschule, zur Unterstützung für eine Theaterproduktion und zu einem Filmbeitrag für den WDR, gemeinsam mit David Behre, geführt.

Natürlich ist vieles anders. Ich kann nicht mit meinem Sohn Lego spielen oder einfach vor die Tür gehen, sagt Ami Inthra. Vormittags wird sie abwechselnd von sechs Assis­tentinnen und Assistenten unterstützt und zu Terminen begleitet, nachmittags ist eine professionelle Haushaltshilfe da. Sie freut sich, im E-Lift-Rollstuhl die Position wechseln zu können oder mit einem besonderen Dreiradgefährt längere Strecken unterwegs zu sein. Aber ich bin auch viel zu Fuß aktiv. Man muss die Stümpfe an das Gehen mit den Prothesen gewöhnen und ich bin damit recht selbstständig.


Das leistet die BGW

Moritz Eheim hat Ami Inthra bis vor Kurzem als Reha-Manager der BGW begleitet, jetzt ist ein Kollege zuständig. Er berichtet:

Was Frau Inthra aus ihrem Schicksal macht, beeindruckt mich sehr. Auf ihrem Weg können wir ihr mit den umfassenden Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung helfen. Sie gehen weit über die unmittelbare medizinische Versorgung und Rehabilitation hinaus. So bekommt Frau Inthra eine Versichertenrente, Pflegegeld- und Sachleistungen. Wir sorgen für die vollständige Versorgung mit Prothesen, inklusive Wechselpaaren und Sportprothesen.

Zu den weiteren Leistungen zählen beispielsweise der behindertengerechte Umbau des Bades, die Automatisierung von Türen und die Sprachsteuerung für die Rollläden oder das Pflegebett-System. Auch die ambulante ärztliche Behandlung, Psychotherapie, Physiotherapie und Physiosport gewährleisten wir. Weil ein Erholungsurlaub möglich sein soll – und besondere Herausforderungen mit sich bringt –, gibt es auch dafür einen Zuschuss.

Von: Anja Hanssen