Finger tasten über eine Buchseite in Blindenschrift.

Bundesteilhabegesetz: Großer Wurf gelungen?

Prof. Dr. Christian Bernzen, Jurist und Experte für Sozialwirtschaft, lobt das neue Gesetz, weil es die Einzelnen radikal in den Blick nimmt. Doch er nennt auch Kritikpunkte.

Der Hamburger Jurist ist Partner der Rechtsanwaltskanzle Bernzen Sonntag und hat sich auf die Sozialwirtschaft spezialisiert. Unter anderem ist er Professor an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, Aufsichtsratsvorsitzender bei Pflegen & Wohnen und Vorstandsmitglied der Caritasstiftung Hamburg.

Jedes Gesetz muss daran gemessen werden, ob es in der Praxis zur Lebenswirklichkeit der Menschen passt. Und noch haben wir dazu mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) zu wenig Erfahrung gesammelt.

Portrait von Prof. Dr. Christian Bernzen
Prof. Dr. Christian Bernzen, Rechtsanwaltskanzlei Bernzen Sonntag
Jurist und Partner


Herr Professor Bernzen, Anfang 2017 ist das Bundesteilhabegesetz zumindest zu Teilen in Kraft getreten. Ist dem Gesetzgeber damit der große Wurf gelungen?

Es bringt auf der einen Seite sicher neue Chancen und Perspektiven. Zugleich beinhaltet das Bundesteilhabegesetz aber auch Risiken für die konkret Betroffenen. Handlungsfähige Menschen mit Behinderungen erhalten deutlich mehr Autonomie. Für sie ist die Wirkung des Gesetzes positiv.

Das Leben wird aber nicht unbedingt für alle einfacher, wenn man es selbst konfigurieren muss. Es gibt auch Menschen, die von sich aus gar kein Interesse daran haben, möglichst alles und jedes eigenständig in die Hand zu nehmen. Praktisch gesehen ist die Unterstellung „alle wollen Autonomie“ wahrscheinlich sogar falsch. Für einige Menschen bedeutet das Gesetz mehr Mühe, ist aber für sie ansonsten neutral – es schadet ihnen zumindest nicht.

Dann gibt es Menschen mit großen Teilhabebeschränkungen und Schwierigkeiten, für sie ist es durchaus auch ein Risiko. Ein Beispiel aus der Praxis: Da will jemand nicht in die Werkstatt, weil er der Meinung ist, die benutzen dort nur deshalb Microsoft, weil sie mit dem CIA zusammen arbeiten und ihn ausspionieren wollen. Im alten System ganz klar ein Signal für Hilfebedarf. Wenn das neue Gesetz wirkt, wird jede Entscheidung des Betroffenen erst einmal akzeptiert und auch solche Menschen bekommen nur dann eine Assistenz, wenn sie eine Hilfe beantragen.

Das BTHG ist insgesamt ein angemessener Versuch, das zu realisieren, was auf Ebene der Vereinten Nationen in der Behindertenrechtskonvention bereits vereinbart wurde. Ob es dann so wie es jetzt ist, auch passt, wird sich in der Praxis zeigen.

Was halten Sie für besonders gelungen am BTHG und was sehen Sie eher kritisch?

Das Gesetz ist vor allem an den Stellen besonders gut, wo es radikal den Einzelnen in den Blick nimmt. Bei der Teilhabeplanung legen Leistungsträger und Betroffene beispielsweise gemeinsam fest, welche Leistungen zu einer Wiedereingliederung in das Erwerbsleben beitragen können: „Was bewirkt dieses Angebot für diesen Menschen?“ Das ist die Frage, an der sich alle orientieren.

Die direkten Zahlungsansprüche der Leistungserbringer an die Leistungsträger, also zum Beispiel an die Krankenkassen oder die Deutsche Rentenversicherung, halte ich allerdings für unsinnig. Der Bundesrat hat hier die Lösung für ein Problem geschaffen, das es nicht gab. Auch die beabsichtigte Beschränkung der Rückwirkung für Leistungs- und Entgelt sehe ich kritisch.

Die Struktur des Gesetzes zeigt an diesen beiden Stellen sowie an vielen weiteren ein Misstrauen gegenüber den Leistungsanbietern, das nicht angebracht ist, weil es sich aus der bisherigen praktischen Erfahrung heraus nicht begründen lässt.

Sie vertreten die These, dass das BTHG auf einem tradierten Verständnis von Arbeit beruht. Was bedeutet das für die Inklusion?

Mit dem Beginn der Neuzeit gibt es eine klare Grenze zwischen Inklusion und Exklusion, und die wird durch Arbeit definiert. Ausnahmen sind Kinder und Alte. Frauen arbeiten traditionell sogar länger als Männer, weil für sie aufgrund ihrer Tätigkeit im Haus kein Ausstieg vorgesehen war. Es ist nur konsequent, dass dieses Teilhabegesetz vor allem auf Teilhabe am Arbeitsleben setzt.

Spannend ist, wie und warum wurden Menschen denn bisher von der Teilhabe am Arbeitsleben ausgeschlossen? Und damit auch die Frage: „Was ist überhaupt Arbeit?“ Wie kann man zum Beispiel zeigen, dass Menschen, die in Tagesförderstätten Leistungen erbringen, wirklich arbeiten?

Bei uns in der Kanzlei haben wir das Abholen, Waschen und Sortieren unserer Stoffhandtücher an Menschen aus einer Tagesförderstätte ausgelagert. Einige davon haben massive geistige Behinderungen. Sie können zum Beispiel nur nach Farben sortieren. Wo arbeiten diese Menschen? Wenn man sie fragt, völlig klar – beim Anwalt. Sie kommen in die Kanzlei und bringen ihr Leben hinein.

Unsere Idee von Arbeit orientiert sich oft viel zu stark an einem Leistungsbegriff, dem eben nicht alle entsprechen können. Da sollten wir ansetzen. Arbeit sollte Menschen inklusiv verbinden, anstatt einige von ihnen auszugrenzen, weil ihre Arbeit das Etikett einer „Minderleistung“ erhält.

Hinzu kommt, dass unser Blick offener sein sollte. Menschen mit Behinderungen können erstaunliche Talente und Entwicklungspotenzial haben. Bei Personen mit Schädel-Hirn-Trauma kehren manchmal plötzlich Fähigkeiten zurück, die schon weg waren. Wenn man das Gesetz anders auslegt als an diesem inklusiven Arbeitsbegriff orientiert, dann macht es keinen Sinn.

Es geht auch darum neue Projekte zu entdecken, um die Welt der Werkstätten weiter für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu öffnen. Wie kann das gelingen?

Zum Beispiel habe ich ein absurdes Hobby als Schatzmeister der Hamburger SPD. Die Buchhaltung wird über einen diakonischen Träger von Menschen aus der Werkstatt erledigt, und das funktioniert gut. Wir müssen unsere Köpfe anstrengen und herausbekommen, was können diese Leute machen. Jeder nach seinen Fähigkeiten.

In vielen Bereichen wird es einen Arbeitskräftemangel geben. Da ist zu überlegen wie kann ich Menschen einsetzen, die lernen und arbeiten wollen. Mit Hilfe des Budgets für Arbeit? Okay! Mit anderen Hilfen oder mit Assistenz? Auch okay. Da ist Phantasie gefragt. In einer solidarischen Gesellschaft ist das kein Problem. In einer nicht solidarischen leider schon.

Stichwort „Eingliederungshilfe“, was verändert sich da?

Die Eingliederungshilfe, die institutionell als Kombination von Grundsicherung, Pflege und weiteren Hilfsangeboten gedacht ist, wird komplett auseinander genommen. Welche Unterstützung ein Mensch mit einer Behinderung bekommt, ist künftig auch nicht mehr von der Wohnform abhängig, sondern orientiert sich ausschließlich an seinen individuellen Bedürfnissen.

Ab 2020 fallen unter die Eingliederungshilfe nur noch die reinen Fachleistungen, die Menschen wegen ihrer Behinderung benötigen, wie etwa bestimmte Hilfsmittel oder Assistenz. Die Kosten für den Lebensunterhalt, für Wohnen, Lebensmittel und Bekleidung, trägt im Bedarfsfall die Sozialhilfe.

Leistungsberechtigt sind Personen, die entweder durch eine Behinderung in ihrer Teilhabe eingeschränkt sind oder die von einer derartigen Behinderung bedroht sind.

Kritische Stimmen sprechen von einer „Zwangspoolung“, die das BTHG vorsieht.

Die so genannte „Poolung“ gab es schon immer. Mehrere Menschen beziehen eben gemeinsam eine Leistung. Ein solcher Leistungspool wäre zum Beispiel gegeben, wenn fünf Menschen Hilfe beim Essen brauchen. Wenn eine Person diese fünf als Gruppe betreut, hat sie dafür vielleicht zusammen genommen eine Stunde Zeit. Hilft sie jedem Einzelnen, bleiben immer nur gut zehn Minuten Zeit für jeden. Das Ganze hat also durchaus Vorteile.

Doch warum wird der Pool als Problem wahrgenommen? Man kann den Begriff ruhig wörtlich nehmen. Im Pool schwimmen mehrere. Dafür ist er dann auch größer. Wer ist der Bademeister? Wie sind die Regeln? Sind die Leute, mit denen ich mir den Pool teile, so wie ich? Das wäre dann ja okay. Wenn nicht, fällt es mir unter Umständen schwer, mich einzufügen. Auch beim BTHG kann ich einen solchen Pool akzeptieren oder auch nicht. Lehne ich ab, ist die Konsequenz, dass ich weniger Leistung erhalte – zum Beispiel weniger Zeit.

Kritiker bemängeln außerdem zu „hohen bürokratischen Aufwand“ durch die gesetzlichen Veränderungen und die Regelung zur Vermögensgrenze für die Empfänger von Eingliederungshilfe. Wie stehen Sie dazu?

Der bürokratische Aufwand wird sich durch die Individualisierung sicher erhöhen. Auf der anderen Seite wird die Eingliederungshilfe laienbedienbar, da die Menschen ihre Hilfen durch das geänderte Teilhabeplanverfahren selbst bestellen. Sie entscheiden außerdem, von welchem Träger sie ihre Leistungen beziehen möchten.

Und wenn verschiedene Leistungsträger für eine Person zuständig sind, besprechen sie gemeinsam, nach einem vorgeschriebenen Ablauf im Rahmen einer „Teilhabekonferenz“, welche Unterstützung eine Person braucht. Doch nur ein Träger bearbeitet dann letztlich den Antrag. Durch die Selbstständigkeit der Betroffenen und den festgelegten Abstimmungsprozess bei den Leistungsträgern verringert sich der Aufwand allerdings auch wieder.

Die Vermögensgrenze etwas anzuheben ist sicher grundsätzlich eine gute Idee, auch wenn dieses Thema letztlich gar nicht so viele Menschen betrifft. Vermögen haben die wenigsten der Betroffenen. Für sie stellt sich vor allem die Frage: „Wie bin ich im Bedarfsfall abgesichert?

Die Allgemeinheit bezahlt solidarisch im Bedarfsfall und übernimmt Basisleistungen für alle. Wenn jemand Vermögen hat, zum Beispiel durch Schadenersatzgeld nach einem Unfall und dann im Rollstuhl sitzt, warum sollte er dieses Geld denn nicht einsetzen? Stattdessen können die Steuerzahler besser in Barrierefreiheit investieren, etwa in den Bau von Rampen oder in die Kommunikation in Leichter Sprache.

Was sollte der Gesetzgeber außerdem noch für mehr Teilhabe tun?

Vor allem Ruhe bewahren. Nicht ganz viel ganz schnell lösen und regeln wollen, sondern erst mal einfach auch die ganze Kritik gelassen ertragen, sich die Wirkungen des Gesetzes genau ansehen und dann vielleicht in fünf Jahren noch einmal nachjustieren.