Mann lehnt sich mit den Armen vor dem Gesicht gegen eine Wand.

Hintergrundinformationen zu Gewalt und Aggression

Aggressivität und Gewalt sind Bestandteil menschlicher Ausdrucks- und Verhaltensweisen. Auch im Gesundheitsdienst und in der Wohlfahrtspflege ereignen sich Krisen- und Konfliktsituationen, in deren Verlauf Mitarbeitende physisch oder psychisch verletzt werden. Als "normal" dürfen Übergriffe aber nicht angesehen werden. Es liegt in der Verantwortung des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin, Gefährdungen zu ermitteln und ihnen systematisch vorzubeugen.

Was ist Gewalt?

  • In einer Jugendhilfeeinrichtung wird eine Pädgagogin während des Nachtdienstes von einem Jugendlichen gewürgt.
  • In einem Pflegeheim bespuckt eine demente Bewohnerin immer wieder die Pflegekräfte. Schließlich schlägt sie einem Pfleger ins Gesicht, als dieser ihr beim Anziehen helfen will.
  • In einer Notfallambulanz beleidigt ein Betrunkener die Ärztin. Er wird anzüglich und droht ihr mit sexueller Gewalt.
  • Eine Apotheke wird während des Notdienstes Ziel eines bewaffneten Überfalls.
  • Einem Arzt wird mittlerweile bei jedem Hausbesuch mulmig, seit er von einem Drogensüchtigen mit einem Messer bedroht wurde.

Zwischen diesen Beispielen existiert eine breite Spanne von individuellen Gewalterlebnissen. Unabhängig davon, ob es sich um verbale Belästigungen, herausforderndes Verhalten oder tätliche Übergriffe handelt, können derartige Erlebnisse psychische wie physische Folgen für die Betroffenen haben. Gewaltprävention setzt daher nicht erst bei der Verhinderung körperlicher Gewalt an, sondern zielt auf den professionellen Umgang mit herausforderndem Verhalten jeder Art.

Gewalt im Sinne der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) wird definiert "als eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung (…), die darauf abzielen, zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben, physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden zu verursachen, und umfasst auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung" (Juni 2019). 

Brennpunkt Pflege und Betreuung?

In einer Studie der BGW und des CVcare gaben knapp 80 Prozent der rund 2.000 befragten Beschäftigten aus Altenpflege, Krankenhäusern und Behindertenhilfe an, in den letzten zwölf Monaten am Arbeitsplatz Gewalt erlebt zu haben.

  • Von den Betroffenen berichteten 94 Prozent über verbale und 70 Prozent über körperliche Gewalterlebnisse. Rund ein Drittel von ihnen fühlte sich durch die erlebte Gewalt stark belastet.
  • Deutlich wurde: Gute Vorbereitung auf kritische Situationen und ein offener Umgang mit dem Thema in den Einrichtungen wirken sich positiv auf das Belastungsempfinden aus. Allerdings sah sich insgesamt nur ein Drittel der Befragten entsprechend gut vorbereitet.

Eine weitere BGW-Studie zeigt: In Pflege- und Betreuungsberufen kommt es im Branchendurchschnitt am häufigsten zu verbaler sexueller Belästigung und Gewalt: 67,1 Prozent der Befragten berichteten von mindestens einem Vorkommnis in den vergangenen 12 Monaten. Kaum weniger (62,5 Prozent) hatten Erfahrungen mit non-verbalen Ereignissen gemacht, beispielsweise als Zeugin oder Zeuge von Situationen, in den es zu sexueller Belästigung oder Gewalt kam. 48,9 Prozent waren selbst von körperlichen Vorfällen betroffen. Die Erfahrungen unterschieden sich allerdings je nach Branche erheblich: Pflegekräfte verwiesen besonders oft auf verbale Belästigung, in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen kam nonverbale Belästigung häufiger vor als in anderen Branchen.

  • Befragt wurden 901 Beschäftigte aus 60 Einrichtungen, darunter ambulante und stationäre Pflege, psychiatrische Einrichtungen, Krankenhäuser sowie Wohnheime und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Ziel war es, differenziertes Wissen über sexuelle Belästigung und Gewalt zu erhalten, die von Patienten und Patientinnen, Klienten und Klientinnen oder Bewohnern und Bewohnerinnen sowie deren Angehörigen ausgeht.
  • Die Befragung beleuchtete auch die Folgen für die Beschäftigten: Wer häufiger sexuelle Belästigung und Gewalt erlebt hatte, berichtete vermehrt von Depressivität, emotionaler Erschöpfung und psychosomatischen Beschwerden.
  • Untersucht wurde auch, wie bekannt Unterstützungsangebote zur Prävention und zur Hilfe für Betroffene sind. 32,5 Prozent der Befragten gaben an, nichts über Maßnahmen in ihrem Unternehmen zu wissen.

Eine Studie der BAuA untersuchte Gewaltereignisse in der ambulanten Pflege. Bei der im Jahr 2022 durchgeführten Befragung nahmen 972 Beschäftigte teil. 39 bis 80 % der ambulanten Pflegenden berichteten von einigen Gewalterfahrungen pro Jahr, oder öfter. Die ambulant Pflegenden gaben an, oft oder immer körperlich (43 %) oder emotional (45 %) erschöpft zu sein beziehungsweise sich ausgelaugt zu fühlen (44 %). Auch Arbeits- und Organisationsmerkmale ambulanter Pflegearbeit stehen mit Gewalt gegenüber Pflegenden in Zusammenhang.

Fast jeder gewalttätige Vorfall hat eine Vorgeschichte. Irgendwann kam es dann zur Eskalation. Dazu können viele Faktoren beigetragen haben – beispielsweise räumliche Enge und fehlende Rückzugsmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten, Überbelegungen, Lärm und andere Stressoren, die ein aggressives Klima fördern. Solche Faktoren sind zu berücksichtigen, wenn mithilfe der Gefährdungsbeurteilung die konkreten Gefährdungen im jeweiligen Arbeitsbereich identifiziert und geeignete Schutzmaßnahmen getroffen werden.

Aggression und Gewalt entstehen in der Regel aus einer Interaktion zwischen den Beteiligten sowie deren Umfeld. Daher kommt es in besonderer Weise auch auf die Kommunikation zwischen den Beteiligten an. Je eher geschulte Kräfte potenziell problematische Situationen erkennen und entsprechend handeln, desto besser lässt sich eine Eskalation verhindern.

Der bewusste und gezielte Einsatz von Sprache ist dabei genauso wichtig wie die differenzierte Wahrnehmung einer Situation und das Nachdenken über die eigenen Verhaltensweisen. Denn Übergriffe können unbewusst und ungewollt auch durch das eigene Verhalten beeinflusst oder sogar ausgelöst werden. Damit ist klar: Eine effektive Strategie zur Gewaltprävention beinhaltet auch, den Beschäftigten Know-how zur Entstehung von Gewalt und zur Deeskalation zu vermitteln.

Welche Folgen hat Gewalt?

Neben körperlichen Verletzungen kann es zu vielfältigen psychischen Reaktionen auf das Erlebte kommen, die sich auch wieder körperlich auswirken können: Wut, Angst, Hilflosigkeit, Reizbarkeit, Schlafstörungen, Erkrankungen der Haut oder des Muskel-Skelett-Systems, Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungen, um nur einige zu nennen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die individuell empfundene und erlebte Bedrohung. Sie ist bei körperlicher Gewalt oft höher als bei verbalen Aggressionen. Doch wer sich einer Situation hilflos ausgeliefert fühlt, vielleicht keine Fluchtmöglichkeiten wahrnimmt und das Schlimmste erwartet, kann durchaus ein Trauma entwickeln.

Viele Betroffene machen sich selbst Vorwürfe oder schämen sich. In besonderer Weise gilt das für Beschäftigte in helfenden Berufen: Aggressive Verhaltensweisen der Klientinnen und Klienten sind hier vielfach Teil des Krankheitsbildes. Übergriffe erscheinen als hinzunehmende Belastung und werden häufig nicht gemeldet.

Eine zusätzliche Belastung für Betroffene entsteht oft im Nachgang zum Gewalterlebnis durch das Gefühl des Alleingelassenwerdens. Untersuchungen des Geschehens können das Belastungsempfinden noch verstärken. Verdrängungsmechanismen oder zeitverzögerte Reaktionen führen außerdem dazu, dass sich nicht jede gesundheitliche Folge sofort bemerkbar macht.

Umso wichtiger ist es, auf alle Erlebnisse einzugehen und in jedem Fall sowohl schnelle als auch langfristig verfügbare Unterstützung sicherzustellen.